Ein ernstes Leben. Heinrich Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heinrich Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726885712
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      Der Sturm legte sich endlich, es wurde sogar ein wenig wärmer, und nach der Schule ging Mingo Merten mit Marie an den Strand. Er behauptete, jetzt würden sie etwas finden, das die anderen nicht mehr suchten. Sie fanden aber eine Wiege, die Wiege eines kleinen Kindes, es war das Kind des Schiffers gewesen. Wo war es jetzt, wo waren seine Eltern? Die Wiege wurde durch Metallreifen zusammengehalten, so hatte sie den Wellen widerstanden. Marie lief und holte ihren langen Clown. Er zeigte schon große Schäden, sie legten ihn trotzdem hinein und nannten einander jetzt Vater und Mutter. Sie kochten im Sand, er kam vom Fischen nach Haus, und sie aßen. Bei allem ahmten sie die schweren Stimmen der Erwachsenen nach, – auf einmal sagte Mingo in seinem natürlichen Ton:

      »Wenn wir groß sind, machen wir das wirklich.«

      Marie sah ihn an und lächelte glücklich. In diesem Augenblick fiel Antje ihr ein. Nach allem, was Antje geredet und versprochen hatte, war sie abgereist ohne ein Wort, und auch seither blieb es von ihr still. Eine Beklommenheit wie in dem verlassenen Zimmer ihrer älteren Schwester wollte Marie ergreifen; sie fürchtete sich vor etwas, das nicht sicher ist. Sie fürchtete die Unzuverlässigkeit alles dessen, was Ernst heißt.

      »Spielen wir doch lieber!« bat sie mit zitternden Lippen und die Augen voll Schrecken.

      Er erkannte, wie es um sie stand, er sagte: »Auf mich kannst du dich verlassen. Ich heirate dich.« Dann küßte er sie, und sie erwiderte es.

      Der nächste Sommer kam und ging fast unbemerkt. Mutter Lehning arbeitete auf einem entfernten Hof, Marie ganz allein mußte alles im Hause verrichten, was der Vater und die Geschwister brauchten. Im Herbst war sie schon vor Abend oft sehr müde; sie hätte nicht geglaubt, daß es eine so große Müdigkeit gibt. Sie wurde damals zwölf Jahre alt. Eines Tages gegen Abend machte sie sich auf, um in den Tannen etwas Reisig zu sammeln. Der Weg rechts hinauf führt zum Friedhof. Das Bündel auf ihrem Rücken drückte Marie, sie wollte ausruhen in einem Winkel der Friedhofsmauer, wo es windgeschützt ist. Auf ihren bloßen Füßen näherte sie sich unhörbar, da saß in dem Winkel schon jemand, ein Mädchen, es hielt das Gesicht in den Händen.

      »Frieda! Bist du das?«

      Die ältere Schwester zeigte ihr Gesicht, um zu bestätigen, daß sie es sei. Sie sagte nichts.

      »Was tust du da? Hast du keine Arbeit?«

      Denn Frieda hatte immer Arbeit, seit sie zu Schlächter Heim gekommen war. Das geschah vor so langer Zeit, daß Marie es nicht mehr wußte, und sie kannte ihre Schwester nicht anders, als von schnellen Begegnungen. Schon zwei Jahre war Frieda verlobt mit Karl Boldt, jetzt sah man sie noch seltener.

      »Wo ist Boldt? Daß du hier so allein sitzt! Und bei Heim hast du doch sonst viel länger zu tun.«

      »Ich hab gar nichts zu tun«, äußerte Frieda endlich. Sie hatte ein Gesicht wie immer, nur regungsloser. »Oder, was ich zu tun habe, ist meine Sache.«

      Marie verstand dies nicht.

      »Heiratet ihr denn nun im Frühling? Kauft Boldt, das Geschäft?«

      Frieda stand auf. »Ja, ja«, sagte sie. »Wir denken uns das alles so. Mir aber ist, als würde es nichts.«

      »Fehlt dir etwas?« fragte Marie.

      »Nein nein. Und wenn, dann muß ich selbst zusehen.«

      »Du bist doch in der Krankenkasse.«

      »Aber nicht dafür!« Dies schrie das Mädchen. Hierauf begann sie merkwürdigerweise sich zu entschuldigen, weil sie so lange nicht mehr in den Katen gekommen war. Während alles dessen, was sie sprach, blickte sie über die Gräber hin.

      »Ich war nie frei«, sagte sie. »Aber das ist es nicht. Ich konnte euch auch nichts mitbringen von Heim, ich hätte es selbst bezahlen müssen, und Boldt wollte alles sparen für das Geschäft. Jetzt ist das auch gleich.« Leise für sich wiederholte sie: »Auch gleich. Bezahlen«, – als prägte sie sich die Worte ein.

      Marie sah, daß Frieda noch schöner als Antje war, obwohl sie nur ein altes schwarzes Tuch um die Schultern trug. Aber Marie empfand Angst, sie gab vor, daß sie noch Holz sammeln müsse, und machte sich davon. Nachher tat es ihr leid, sie kehrte nochmals zu der Stelle zurück, da stand aber keine Frieda mehr.

      Drei Tage später war Frieda tot. Marie erfuhr, was ihre Schwester getan hatte; aber seit der letzten Begegnung war ihr so viel durch den Kopf gegangen, daß sie schon selbst alles wußte. Mutter Lehning wanderte von dem entfernten Hof herbei, ihr Zorn war größer als ihr Schmerz. Sie ließ sich zu Marie über alles aus.

      »Mit einer Stricknadel! Damit das Kind nicht kommt, und dabei sollten sie heiraten!«

      ›Sie hat sich ganz schrecklich quälen müssen‹, dachte Marie. ›Bevor sie sterben konnte!‹

      »Dann hätte doch mal eine von uns ein besseres Leben gehabt!« sagte Mutter Lehning mit rauher Stimme.

      Bei dem Begräbnis Friedas aber war das ganze Dorf, auch die Fischer, auch die Kaufleute, und der Lehrer, der Pastor, der Arzt. Die Familie der Toten, so viele Kinder noch mitgehen konnten, drängte sich hinter dem Sarg zusammen, klein und erstaunt über das Ansehen, in dem ihre Frieda gestanden hatte. Ihnen folgten die guten Kleider, die guten Bratenröcke und der Zylinderhut, den jeder Älteste von seinem Vorgänger ererbt hatte. Als die Friedhofsmauer in Sicht kam, beugte Marie die Stirn und legte die Hände darüber – so, wie Frieda dagesessen hatte in jenem windgeschützten Winkel.

      Sie mußte nicht sogleich wieder zur Schule gehen, auf einem Gang aber hörte sie die Kleinen drinnen singen, es war der Vers: »Lütt Matten gev Pot, de Voß bet em dot.« Hierbei dachte sie: ›Alles eins – bezahlen‹, die letzten Worte ihrer Schwester. ›Mir aber ist, als würde es nichts‹ – auch das fiel ihr wieder ein. ›Mit einer Stricknadel!‹ Dies war die Stimme der Mutter. Auf einmal meinte sie, auch Antje spreche zu ihr. Antje, die nie mehr ein Zeichen gegeben hatte, sollte sie je wieder eins geben? ›So wenig wie Frieda‹, mußte Marie denken. Gleichzeitig erschien ihr das Gesicht eines Gendarmen, der schon längst nicht mehr im Dorf war, aber er hatte den Vater abgeholt, als die kleine Dörtje oben in den Tannen lag mit dem Rock über dem Kopf.

      Sie fühlte Angst vor der allzu großen Deutlichkeit ihrer Erinnerungen, und grade die Furcht ihres Herzens versicherte ihr, daß sie dies alles nie vergessen werde. ›Jetzt weiß ich es‹, dachte sie. ›So ist es!‹ Immer beim Anblick der Liebespaare kamen ihr dieselben Worte. Des Abends auf der schwach beleuchteten Strandpromenade bewegten sich zwei Schatten unter diesem und jenem der Bäume, von denen die Blätter fielen. Die welken Blätter schwankten durch die Luft, bevor sie eine Strecke weiterhin den dunklen Boden berührten. Marie dachte: ›Jetzt weiß ich, wie das ist. Ich will auch nie mehr weinen. Meine Mutter weint nicht, und sie hat ein hartes Gesicht.‹

      Sie war ein herangewachsenes Mädchen, dreizehn, bald vierzehn, sollte eingesegnet werden, und daher ging natürlich auch sie schon mit ihrem Freund am Abend unter die Buchen. Mingo Merten hielt den Arm um ihre Schulter, sie umschlang die seine, und sie tuschelten, wie alle anderen. Bei keiner hätte der Junge mehr Unschuld und kindliches Vertrauen finden können. Was das Rollen der See nicht zudeckte von ihren Worten, klang ernst und hingebend. Wenn das Mondlicht hervorkam, konnte er ihren weichsinnenden Blick erkennen. Soviel sie ohne ihn und fern von ihm alles hatte erlernen müssen, es blieb ihm unbekannt. Sie bedauerte nicht sich selbst, aber ihr lieber Freund tat ihr leid. Daher verriet sie nichts, und er ahnte niemals, diese Stimme, dieser Blick kämen aus einem Innern, das sich schon schützen und verhärten wollte. Einst fuhr sie in seinem Arm zusammen, er bemerkte, daß sie zitterte, und wie sie fortstrebte. Unglücklicherweise versuchte er, sie festzuhalten, da riß sie sich los; sie schrie auf.

      »Laß mich!«

      »Was hast du auf einmal?«

      Sie hatte Boldt gesehen mit einem Mädchen. Der Verlobte Friedas stand mit einer anderen dort hinten unter dem Baum und küßte sie! Seinetwegen war Frieda tot! Er hatte gespart und wollte kein Kind, darum hatte sie sterben müssen, und jetzt küßte er die da! Marie sagte zu Mingo, ihr sei plötzlich schlecht geworden, und sie tat, als ob sie weinte. Er glaubte ihren Tränen,