Ein ernstes Leben. Heinrich Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heinrich Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726885712
Скачать книгу
ergänzte seine Schwester.

      »Na und das große?« fragte er frech.

      »Wir sind furchtbar reich«, behauptete die Kleine.

      Marie dachte bei sich: ›Töw man 'n beeten!‹ Das hieß: Warte nur! Als sie dann mit ihnen ins Wasser ging, wollten die beiden Badegäste nicht weiter hinein als bis an die Knie, so warm und spiegelglatt es auch war. Marie gab nicht nach, obwohl sie flennten und sich an sie klammerten. Pflichtgetreu tauchte sie die Badegäste unter. Dafür trocknete sie die Geschwister nachher ab. Für sich selbst fand sie es unnötig, aber das waren Badegäste, etwas Vornehmes und Verächtliches zugleich.

      Die beiden taten sanft und artig; Marie sah wohl, daß sie einander Blicke zuwarfen aus ihren gleichen, mandelförmigen Augen; sie war trotzdem auf nichts gefaßt, es geschah ganz plötzlich. Der Junge mußte ihr ein Bein gestellt haben, denn sie fiel auf Brust und Gesicht, und beide Kinder bearbeiteten sie mit den Fäusten. Es waren nur schwache Fäuste, aber außerdem spuckten die beiden. Marie stand auf und war nahe daran, ihnen zu zeigen, daß sie viel besser spucken konnte. Rechtzeitig fiel ihr ein, daß ihre Mutter von den Eltern der Kinder inzwischen Geld bekam, wenn sie sich hier anspucken ließ.

      Das Merkwürdigste war, wie schnell den fremden Kindern ihre Wut verging. Der Junge verkrümmte schon nicht mehr den Mund, seine Augen funkelten nicht mehr tückisch, und das Mädchen lächelte wieder überlegen, wie vorher. Marie kam da nicht mit.

      »Kurt, wir wollen mit der Kleinen spielen«, erklärte das Mädchen.

      »Viktoria, du bist die gnädige Frau«, stellte er mit Stolz fest. Das Mädchen bestimmte:

      »Sie ist bei meinem Baby die Amme.«

      »Stimmt, Vicki, und ich bin das Baby!«

      »Aber du bekommst die Flasche«, belehrte ihn seine Schwester mit ihrem sonderbar glatten Lächeln, bei dem sich manches denken ließ.

      Alle drei spielten wirklich herrlich im weichen Sand.

      Weich war das Fächeln der Luft, und See und Himmel blauten unabsehbar. Weich wurden die Stimmen der schreienden Kinder ringsum vor den Strandkörben, und die vorübergleitenden Dampfer schickten von fern die Rufe ihrer Sirenen wie aus Liebe. Der Strand war leer geworden, da erkannte Marie am Stand der Sonne, daß es Zeit war, die Badegäste zurück in ihre Villa zu bringen.

      Sie hatte einen Tag gehabt, wie es eigentlich keinen geben durfte. Denn zu Hause war im Faß die Wäsche eingeweicht, wer hatte die inzwischen besorgt? Marie fürchtete, daß die Mutter angeben könnte, aber das ging ihr nicht nahe. Vielmehr fühlte sie sich gehoben von ihrer Bedeutung. Um so schrecklicher war die Nachricht, die sie erwartete.

      »Lütt Pieter ist halb versoppen; hast du nicht aufpassen können, unnütze Deern?«

      Ihr kleinster Bruder, der noch nicht einmal sprechen konnte, war allein bis an das Wasser gekrochen, so erfuhr sie. Fremde Leute hatten ihn herausgezogen, als er schon längst mit dem Gesicht darin lag, die krummen Beinchen noch im Trocknen, und sich nicht mehr rührte. Jetzt aber war er wieder richtig da und schrie. Daher folgte ihrem ersten Schrecken ein großer Ärger auf lütt Pieter, weil er versucht hatte, ihr den schönen Tag zu verderben. Sie holte sich trotzig ihr Abendbrot. Mutter Lehning drohte, dies sei das letzte Mal, daß sie sich mit den Badegästen umhergetrieben habe. Aber Marie brauchte nur Vater Lehning anzusehen, wie er den guten Tabak rauchte und Köhm dazu trank, dann wußte sie Bescheid wegen der Drohung.

      Wirklich kamen noch viele schöne Tage; niemand zählte sie, nichts hätte sie ändern können, kein Gewitter, denn am Morgen war es wieder blau. Die Zwischenfälle, Streit mit den beiden Badegästen oder zu Hause, alles, was nicht hineingehörte in den nie endenden Sommer, war sofort vergessen. Marie sollte später daran denken; jetzt genoß sie, ja, sie erfuhr endlich, was das heißt. Auch Mingo Merten spielte mit, ein Fischerjunge, ihr Freund. Da er indes überall auf die Seite Maries trat, duldeten die beiden Meiers ihn nur. Sie hießen Meier. Mingo hatte den Humor der Fischer, gutmütig und frech; er nannte die Badegäste nicht Viktoria und Kurt, sondern Meier eins und zwei. Sie mochten ihn nicht, aber sie fürchteten ihn. Außerdem warteten sie auf die versprochene Segelpartie. Er hielt sie hin, wie Marie sehr wohl begriff.

      »Warum tust du das, Mingo? Du kannst das Boot doch alle Tage haben.«

      »Wohl. Aber wenn wir in See stechen und 'ne Welle so groß wie 'n Kopfkissen klötert bloß 'n bißchen am Bug, was glaubst du, Meiers werden seekrank. Und sind sie erst mal seekrank gewesen und kommen wieder an Land, dann jagen sie mich weg, die Badegäste.«

      Genau so geschah es. Kurt bekam dabei das bekannte wilde Gesicht, und wenn seine Schwester die Brauen verfinsterte, sah sie ihm ähnlich wie nie – besonders aber, als Mingo nicht ihr, sondern nur Marie zum Abschied die Hand reichte. Er nahm von dem Haß der Badegäste keine Kenntnis, anrühren durfte man sie ohnehin nicht.

      »Tjüs, Marie, es war nett«, sagte er, drehte sich um und entfernte sich über den Sand. Er war gewachsen seit letzter Zeit, er wurde breit in den Schultern. Die Hüften erschienen um so schmaler, und er fing an, sich im Gehen zu wiegen. Vereinsamt begleitete Marie ihn mit dem Blick, bis der Abstand ihn verkleinerte. Ohne es zu wissen, seufzte sie. Schließlich wandte sie sich zu den Geschwistern, – da hatten Meiers einander umschlungen und begegneten ihr mit dem gleichen Lächeln.

      »Nun ist er weg«, bemerkte das Mädchen.

      »Hast du gesehen, wie ich ihm eine geklebt habe?« fragte der Junge, obwohl davon nichts zu sehen gewesen war.

      Marie fand nur das eine ekelhaft, daß sie zusammenhielten wie die Kletten. Ihr wurde nicht erst klar, was eigentlich beginnen wollte, sie zu schmerzen; denn in diesem Augenblick kam die Kuchenfrau vorbei, und Kurt zeigte, was er konnte, er kaufte den halben Korb.

      Kurz darauf erfolgte das Ereignis der Saison; in Röhns Hotel zog Antje Lehning ein. Eine Lehning aus dem Tagelöhnerkaten besetzte die beiden besten Zimmer im ersten Haus am Platz! Sie war die älteste der Töchter, neunzehn Jahre, und hatte in Hamburg ihr Glück versucht, als Kindermädchen, wie Lehnings behaupteten. Jedenfalls war sie dabei auf Herrn G.P. Tietgen gestoßen und konnte jetzt von Röhns blumengeschmücktem Mittelbalkon hinunter Schokolade auf die Leute spucken. Jeder Warmsdorf er mußte sie gesehen haben und blieb so lange auf der Promenade stehen, bis Antje sich zeigte. An der Tafel beim Portier stand sie verzeichnet als Annie – sogar als Frau Annie Lehning.

      G.P. Tietgen war mitgekommen, daher ging sie die ersten Tage als vornehme Fremde über das Bollwerk oben, oder spazierte die Strandbretter entlang. Oben sah man sie nach der neuesten Mode gekleidet, Brust und rückwärtige Reize wirksam herausgearbeitet, mit blondem Gelock, das echt war, und amerikanischen Absätzen, auf denen sie sich unnachahmlich fortbewegte. Am Strand bevorzugte sie ein Mindestmaß von Badekostüm ohne Mantel. Groß, vollschlank und noch nicht gebräunt, bestach dieser fehlerlose Körper alle Blicke und schlenderte voll Erhabenheit den Herren, die ganz traurig wurden, an der Nase vorbei. Die Badegäste erholten sich von dem Eindruck erst, als sie erfahren hatten, daß G.P. Tietgen die Person mitgebracht hatte, und daß sie von hier aus dem Dorf war.

      Sobald es ihr mit Rücksicht auf ihren Begleiter möglich war, besuchte Antje den Katen ihrer Kindheit. Sie hatte nur deshalb auf Warmsdorf bestanden für diesen August, damit sie aus Röhns Hotel auf den Raten hinunterblicken konnte. Während des Ganges zu den Ihren dachte sie: ›Nun sollen die mal kieken! Die Gans und der Wein, so was kennen die gar nicht. Echtes Kirschwasser hat Papa auch noch nicht erlebt. Die setzen sich überhaupt hin, wie ich aussehe!‹

      Dennoch stand es um ihr Inneres viel demütiger. Ihr tiefstes Gefühl war: daß Mutter man nicht haut! Bei ihrem Vater hoffte sie sich eher durchzusetzen, daher hatte sie die Stunde gewählt, in der er voraussichtlich auf das Abendbrot wartete. Aber die Mutter sollte es vom Bauern erst mitbringen und war noch unterwegs. Soweit stimmte die Rechnung der verlorenen Tochter, nur hinsichtlich des Empfanges hatte sie sich doch noch Täuschungen hingegeben.

      »Na findest du mal her?« fragte der alte Lehning, ohne seine Pfeife aus den Zähnen zu nehmen. Ihre kleinen Geschwister zeigten weniger Verblüffung als kalte Neugier. Der schon größere Kasper grinste sogar anzüglich. Sie wurde verlegen und