»Das ist nicht gut«, entschied Nora Schattich. »Sie sollten jetzt nicht den Rücken wenden. Wir leben nun einmal im selben Hause, ja, was noch wichtiger ist, in derselben Welt. Daher kann ich nicht finden, daß geschäftliche Stellungnahme entscheiden sollte über unsere menschliche Haltung. Die Gesellschaft, an deren Bestand wir alle gleichmäßig interessiert sind, verlangt, daß jeder wenigstens das Gesicht wahrt.«
Sie hielt ihre Rede im leichtesten Plauderton. Die beiden Rapp staunten. Schattich schien es gewohnt zu sein; in seiner Miene lag eine, wenn auch oft geübte Anerkennung.
Schon plauderte die Dame weiter.
»Ihre Lage, Herr Rapp, gegenüber denen, die, wie Sie sagen, ›schon drin sind‹, wird nicht immer dieselbe bleiben, und mancher von jenen war einst in Ihrer Lage. Ich, die ich keine alte Frau bin, erinnere mich sehr wohl, daß von meinem Vater, der über Einfluß verfügte, junge Leute abgewiesen wurden, und heute können sie andere abweisen.«
Ein unmißverständlicher Blick auf Schattich.
»Wenn ich sage ›junge Leute‹, meine ich nicht Ihr eigenes Alter, Herr Rapp. Auch beträchtlich Ältere gelangen noch zum Start, wenn jemand mit ihnen Mitleid hat …«
Ihr Gesicht war furchtbar vor höflicher Grausamkeit. Weder Margo noch Emanuel wagten ihren Gatten anzusehen. Es schien ihnen wohl, daß Schattich nicht wankte, aber was geschah in diesem Augenblick hinter seiner ehernen Fassade? Beide Kinder fühlten sich eingeschüchtert von dem, was sie ahnten, den Kämpfen der älteren Leute, den so viel härteren, nicht mehr zu schlichtenden, auf immer hoffnungslosen Kämpfen.
Waren aber andere beschämt, der Dame Nora machte es nichts. Mit ihrer bisherigen Leichtigkeit und mit erhobener Stirn bedeutete sie dem jungen Mann, er möge sie erwarten.
»Sie verabschieden sich von mir unten. Nur noch ein Wort an Ihre liebe kleine Frau!«
Indessen Nora Schattich über Margo geneigt stand, nahm der Generaldirektor seine Rache an dem ganz unvorbereiteten Emanuel. Dieser sollte erst nachträglich begreifen, was vorgegangen war. Emanuel befand sich im Abgehen und dachte nicht daran, seinem hohen Vorgesetzten mehr als eine kühle Neigung des Kopfes zu widmen. Nun zeigte aber Schattich, an dem er vorbei mußte, ein einladendes Lächeln. Einladend war es zu deuten, und auch die Hand bewegte sich mehrere Zentimeter weit vom Körper fort. Das Ganze sah aus, als wären Händedruck und ein verbindliches Wort erwünscht gewesen.
Der junge Emanuel wurde schnell warm, er neigte zum Entgegenkommen wie zum Kampf, und noch soeben hatte er Mitleid gefühlt. Seine förmliche Miene belebte sich denn auch, die Hand öffnete sich; sie wird, während er auf Schattich zugeht, unverkennbar ausgestreckt, der Oberkörper macht im Gehen schon die versöhnliche Wendung. Jetzt wäre er da; die Muskeln wollen haltmachen, vielleicht tun sie es wirklich eine Sekunde lang; sie können die Anordnungen Emanuels nicht so plötzlich stoppen, wie sein Geist es möchte. Denn Emanuel erblickt einen veränderten Schattich. Das einladende Lächeln war Hohn oder ist auf nicht nachweisbare Art höhnisch geworden. Die Hand hat den Körper nur verlassen, um vom Schreibtisch ein Lineal zu nehmen. Es ist ein sehr biegsames Lineal und schnellt bei jedem Druck der Schattichschen Hand auf und nieder, wie die klassische Reitgerte.
Emanuel dachte an keine Reitgerte, weil er erst zur Zeit des Autos ins Leben getreten war. Nur Schattich verband einen bestimmten Gedanken mit der Spielerei seiner Hand. Daher schnaubte und kicherte er auch sieghaft, als der Junge an ihm vorbei war. Emanuel dagegen konnte nichts weiter tun, als daß er leicht auftrat, größer ward und in die Luft sah. So gelangte er aus der Tür.
Nora Schattich sprach zu Margo Rapp mit reizender Vertraulichkeit. Sie hielt ihr den Gemeinsinn der Frauen vor Augen. Margo möge ihren Mann mäßigen, wie Nora den ihren an Übertreibungen seines Machtwahnes verhindern werde. Sie sprach einigermaßen wegwerfend von Schattich.
»Was will der alte Mann noch machen, er hat seine Zeit gehabt. Ich glaube an die Jugend. Wenn ein Junge kommt und ihn stürzen will – Ich sage stürzen! Glauben Sie mir, Kind, die Alten sind im Grunde wehrlos; da hilft nicht Kapital noch Gesetz – wenn sie alt sind.«
So redete die Dame zum Erstaunen Margos mit Anmut und einer Art herablassender Zärtlichkeit. Margo nahm es übrigens, trotz Erstaunen, hin wie geschuldet.
»Er wird natürlich auftreten wie die Allmacht«, sagte die Dame noch. »Ihr dürft euch nur nicht verblüffen lassen. Ihr Emanuel soll ruhig, aber fest bleiben, seine Stunde kommt von selbst. Auch Sie, mein Kind, gewähren besser gar nichts. Ich warne Sie nicht aus Eifersucht«, erklärte sie überaus hochmütig. »Ich bin nur der Meinung, daß die Tage vorbei sind, als dieser Liebling des Glückes Erfolg haben durfte.«
Hier verschwand einen Augenblick jede Anmut, Margo sah in das wahre Gesicht des Hasses. Sogleich beherrschte die Dame sich wieder.
»Wir werden künftig noch engere Hausgenossen sein, liebe Margo. Außerdem sind wir Geschlechtsgenossinnen« – den Arm um den Nacken der jungen Frau. »Ich finde es selbstverständlich, daß du mir alles erzählst, was hier vorkommt … Ich will euch helfen«, schloß sie leise, weil Schattich endlich aufhorchte.
Er legte Arbeiten für seine Sekretärin zurecht. Der Gedanke, daß seine Frau die Kleine gegen ihn einnehme, kam ihm erst spät, und auch dann noch ließ er die gefährliche Dame sich lieber aussprechen, als daß er ihr entgegentrat.
Nora küßte Margo auf den Mund. Dann sagte sie, vorüberrauschend an Schattich: »Überanstrenge dich nur nicht, du Ärmster!«
Margo dachte noch, daß dies Gespräch einen einzigen Zweck verfolgt hatte; sie sollte veranlaßt werden, den Mann zu überwachen zugunsten der Frau, die ihn haßte. Warum nicht, wenn es der Sache Emanuels nützen konnte! Margo war entschlossen, für Emanuel ohne alle Bedenken zu arbeiten … Sie dachte dies noch, da fuhr Nora Schattich mit Emanuel, der sie geduldig erwartet hatte, im Aufzug hinauf in das dritte Stockwerk.
Als sie hinaustraten, stand die Zofe Marietta da. Sie begrüßte Emanuel mit einem kurzen Aufreißen ihrer schwarzen Augen, und auch dies bedeutete nicht Verwunderung, eher bewies es ihm ihr Einverständnis.
»Der Tee ist serviert, gnädige Frau«, sagte sie und öffnete die Tür in ein großes helles Zimmer. Als Nora schon drinnen war, flüsterte Marietta dem Jungen schnell noch zu: »Das Schlafzimmer ist links.«
Worauf sie flüchtig die Zunge ausstreckte. Dann goß sie den Herrschaften den Tee in die Tassen. Nora sagte solange: »Ihre Angelegenheit mit Herrn Schattich ist symptomatisch. Fällt es Ihnen nicht auf, Herr Rapp? Zwei Generationen berühren einander: erstens die Lebensstufen, außerdem die sozialen Zeitalter.«
Sie legte ihm hierbei Eier auf Schinken vor. Ihre Bewegungen waren so gut gepflegt wie ihre Ausdrucksweise, ihm blieb nur schweigende Bewunderung übrig.
»Sie haben noch nicht gefrühstückt; und wenn Sie es auch schon hätten, jetzt leisten Sie mir Gesellschaft. Sie sitzen auf dem Platz meines Gatten – der wahrscheinlich in diesem Augenblick seinem Diener aufträgt, das Tablett heraufzuholen für zwei Personen.«
Wobei sie ihn mit kühnen blauen Augen ansah. Was konnten ihre Worte daher viel bedeuten. Sie plauderte nur.
»Ich bin erfreut, einmal wieder mit Ihnen zu plaudern«, äußerte sie tatsächlich. »Übrigens glauben Sie nicht, wie sehr die Auseinandersetzung zweier Männer mich spannt. Ich fühle wohl eigentlich, wie die richtigen Frauen immer fühlten – vor Erfindung der Kameradschaft. Wenn ihr kämpft, glauben wir immer, es geschehe unseretwegen.«
Grade hierbei machte sie ihr damenhaftestes Gesicht, dadurch wurde es unmöglich, ihren letzten Satz persönlich zu nehmen. Emanuel fühlte sich dennoch warm werden. Bevor er es wußte, hatte er gesagt: »Ich bin schon längst Ihr Bewunderer, gnädige Frau.«
Kaum war es heraus, sah er hinter der Dame die Zofe eine große Anstrengung machen, um nicht zu lachen. Sie krümmte sich, drückte die Faust vor den Mund und gelangte mit einem Anlauf grade noch