Die große Sache. Heinrich Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heinrich Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726885705
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Susanne kam Liebe nicht in Frage; sie war seine Altersgefährtin und das gleiche junge Arbeitstier wie er. Zu Margo und Inge sah Ernst unter seinen zusammengewachsenen schwarzen Brauen empor als zu der unerreichbaren Schönheit. Sie waren seine ganze Romantik. Er träumte von Margo als der ersten festangestellten Flugzeugführerin in der ganzen Luftfahrtgesellschaft. Inge ihrerseits heiratete, wenn es nach Ernst ging, einen allerersten Mann, einen der Führer der Zeit, Boxer Brüstung.

      Ernst schaltete den Strom ein, der das Wasser für den Kaffee heizte. Dann betrat er den Küchenbalkon und wartete, bis alle fertig angezogen waren. Außerdem hoffte er den Boxer schon drunten im Park zu sehen. Der verliebte Brüstung bediente sich des jungen Ernst, um jeden Sonntag in Erfahrung zu bringen, wo er Inge antreffen konnte. Sie selbst sagte ihm nicht immer das Richtige. Er warb um sie bisher ohne entscheidenden Erfolg.

      In dem stillen Monbijou-Park entdeckten die Blicke des jungen Ernst noch keinen Menschen. Wohl aber stand die junge Zofe der Frau Schattich schon auf der Terrasse des dritten Stockwerks. Sie lehnte sich an den Mast der schwarz-weiß-roten Fahne, die Schattich hier immer wehen ließ, damit die Spaziergänger des Parks sie vor Augen hätten. Vorn auf den Heumarkt hinaus überließ er das Flaggen seinem Mieter Birk, der ganz oben wohnte. Daher trug das Dach die Farben Schwarz-Rot-Gold, und Schattich duldete es. Sie stellten das Gleichgewicht her, und der frühere Reichskanzler war außer Verantwortung.

      Im dritten Stock schliefen die Herrschaften mindestens noch zwei Stunden. Marietta hätte sonst nicht wagen dürfen, mit Ernst zu flirten. Ihr Standpunkt war vor dem Schlafzimmer ihrer Herrin. Das zweite Stockwerk enthielt die Schattichschen Gesellschaftsräume, das erste die Büros. Der hohe Konferenzsaal des Generaldirektors reichte vom ersten bis zum zweiten und belegte ihren ganzen hinteren Teil, mit allen seinen Fenstern nach dem Park. Das Dach des Saales war eben die Terrasse mit der Fahnenstange, an der die Zofe lehnte. Eine eigene Treppe führte neben dem Saal hinauf bis hinter die Wand der Terrasse.

      Auf dieser Treppe ging Schattich seine Wege, die seine Gattin Nora nicht alle kannte. Auch Marietta suchte den Knaben, den sie begehrte, dort hinunter zu locken. Sie holte jetzt wieder einmal den Schlüssel hervor, tat, als öffnete sie die kleine Tür in der Mauer, dahinter die Treppe lag, und mit der anderen Hand deutete sie an, wie leicht es sei, zu ihr herabzusteigen.

      Das wußte er; er hatte es schon erprobt, aber nur, wenn sie nicht da war. Er blieb völlig ernst, ja, düster, während sie so lockende, leichte Mienen zeigte. Im Innern sah er sich mit ihr inmitten der Gesellschaftsräume des Generaldirektors, bei großer Beleuchtung auf ungeheuren seidenen Sofas. Die Aussicht berauschte den jungen Mechaniker nicht sehr und machte ihm nicht übertrieben bange. Er erwog sachlich die Chancen seines Vergnügens. Immerhin klopfte ihm das Herz, und das Mädchen wußte es. Sie lachte ihn aus. Auch eine unanständige Gebärde wagte sie.

      »Ich kann alles sehn«, sagte eine hohe Stimme, und sie bemerkte Boxer Brüstung. Er stand auf dem Gartenweg und verschränkte die Arme. Die Zofe Marietta schnitt ihm noch schnell eine Fratze, dann verschwand sie nach den Schattichschen Gemächern. Im letzten Augenblick flüsterte sie hinauf zu Ernst: »Nachmittag um drei.« Sie war sicher, daß er sie verstand.

      Er hatte indes nur Sinn für Brüstung dort unten, der von ihm Nachricht über Inge erwartete. Heute abend sollte der Boxer kämpfen im Sportpalast vor der tausendköpfigen Menge, noch immer aber kam er wegen Inge! Ernst war ein Junge, dem vorläufig seine Schwester und ihre Sache mit Brüstung wichtiger erschienen, als was in Hinsicht des Herzens ihm selbst zustoßen konnte. Anders, wenn es sein Verhältnis zu der Luftfahrtgesellschaft betroffen hätte.

      Er sprach zwischen seinen Handflächen in den Park hinunter.

      »Sie ist aufgestanden. Ausfahren? Noch nicht sicher – wegen Vater. Warte mal! Ob sie nicht kommt? Bist du in Form?« fragte er auch noch.

      Aber Brüstung zeigte ihm jetzt von unten ein Päckchen. Ernst begriff sofort. Er ging hinein, schon kam er mit einem Seil zurück. Er ließ es hinab, Brüstung hängte das Päckchen daran.

      Kaum hatte Ernst es oben, war Inge da.

      »Was treibst du? Ach so. Das will ich aber nicht.«

      Sie hatte über Brüstung hinweggesehen, unvermeidlich war nur, daß sie bemerkte, was die geplatzte Hülle des Päckchens verriet. Silberlamé funkelte im Morgenstrahl. Es versetzte Inge einen Stoß; sie nahm das Geschenk und wollte verschwinden. Ihr kleiner Bruder rief ihr nach: »Wenn du es nimmst, muß er auch –«

      Sie war fort. Ernst beugte sich tief über das Geländer des Balkons.

      »Bruno! Jetzt glaube ich, daß es wird.«

      »Woher?« fragte der Boxer gedämpft und angstvoll.

      »Dein Geschenk regt sie auf. Grade das Kleid hat sie sich gewünscht, sie sprach davon.«

      »Ich habe sie vor dem Schaufenster beobachtet«, sprach Brüstung nach oben, »da wußte ich Bescheid.«

      »Du bist ein feiner Kerl«, sagte Ernst hinunter, »ich möchte Boxer werden.« Er war begeistert, seine Stimme klang ganz hell.

      »Glaubst du, sie liebt mich jetzt?« Auch Brüstung sprach glücklich erregt. Beide jungen Leute hatten das Gefühl, allein zu sein, und wäre der öffentliche Park auch schon besucht gewesen. Er gehörte aber sich selbst und ihnen im Tau und ersten Licht, mit allen Laubschleiern. Dahinter die noch verschlossenen Häuser, alles im Schlaf, nur sie beide nicht; und neu erwacht, wie sie, waren der Park und seine frische Luft.

      Im Gefühl, allein zu sein, sagten sogar beide, wie Inge schön sei.

      »Ich sehe sie durch das Fenster«, meldete Ernst. »Sie hat dein Kleid an.«

      »Wenn ich das sehen könnte!« verlangte der Boxer.

      »Dann komm herauf«, beschloß ihr Bruder kühn. »Gleich frühstücken wir.«

      Schon lief Brüstung. Ernst lag noch eine Weile über dem Geländer und spuckte hinunter. Dabei teilten sich seine dunklen Haare, und die merkwürdige weiße Strähne erschien, die er lieber versteckte … Bedenken kamen ihm. Nichts vom soeben Gesprochenen schien ihm noch voll berechtigt. Worte hatten niemals die Zuverlässigkeit einer laufenden Maschine. Der Siebzehnjährige lernte dies täglich – an anderen, an sich selbst. Er zog die Brauen fester zusammen und ging hinein.

      Im Wohnzimmer deckte Margo den Tisch. Die kleine Susanne ging ab und zu, sie brachte die Sachen. Dann war noch Emanuel da, er kehrte aber den Rücken her. Es wurde nicht gesprochen.

      »Sie ist in unserem Zimmer«, flüsterte Susanne. »Sie probiert ein neues Abendkleid.«

      Margo erschrak. Sofort sah sie sich nach Emanuel um – der nicht hörte oder nicht hören wollte. Margo zog dennoch die Jüngste bis unter die Küchentür.

      »Woher hat sie ein neues Abendkleid? Gestern konnte sie nicht mal die Bluse kaufen, und die braucht sie.«

      »Willst du sie sehen?« fragte Susanne, um sich zu rechtfertigen. Aber aus Gutmütigkeit sagte sie: »Von Emanuel hat sie es sicher nicht.«

      Margo warf den Kopf zurück.

      »Kommt nicht in Frage«, sagte sie blaß und mit brennenden Augen.

      Plötzlich wandte ihr junger Gatte sich an Ernst.

      »Du kannst den Wagen haben.«

      »Wieso? Ihr fahrt nicht hinaus – wegen Vater?«

      »Ich – wegen Vater«, erwiderte Margo. »Emanuel muß andere Gründe haben.«

      Das reizte ihn.

      »Ich lasse mir doch nicht vorschreiben, wen ich mitnehmen darf und wen nicht.«

      Margo fühlte Tränen, daher wechselte sie wieder die Stellung. Sie blickte jetzt in Richtung der Schlafzimmer; grade aber ging die Tür auf, Inge stand da. Die Schwestern sahen einander an. Die Augen Inges glitten einmal schnell hinüber zu Emanuel, dann sahen sie einander weiter an.

      »Inge, fahr mit mir!« bat Ernst in bester Absicht. Die sanfte Margo aber zeigte ihm ein drohendes Gesicht.

      »Inge