Brauch Blau. Julia Malik. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julia Malik
Издательство: Bookwire
Серия: Debütromane in der FVA
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783627022815
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noch weniger Nähe zu ihm aufbauen können.

      Vielleicht könnte sie sich mit Herbert auf den kleinen Balkon setzen und beim Roomservice anrufen, damit ein livrierter Herr ein Tablett mit glänzenden Weingläsern brächte?

      Herbert schnarchte. Sie küsste ihn zärtlich auf seine verschwitzte Schläfe. Wenn er eine Kiffpause machte, befreite sich sein Körper mit dem Schweiß von allen Giften, dann roch er immer so. Sie spürte, wie sehr sie ihn liebte. Nein, jetzt ging das nicht mehr. Zu spät für den Balkonservice. Wenn er schlief, brauchte man zwölf Stunden nicht anzuklopfen. Sie versuchte, sich wieder zwischen die tretenden Körper einzufädeln. Sie hatte gedacht, er könnte warten. Die schwierige Zeit mit den kleinen Körpern abwarten. Auf sie. Bis sie wieder freier wäre. Aber er konnte wohl nicht.

      Kurz danach hatte er die Vigräne getroffen, die sich am Abend sehr gern bei Whiskey und Zigarette seinen Ansichten hingeben wollte. Die hatte auch nicht diese unliebsamen Kindervorgänge an der Backe.

      BRAUCH BLAU

      Sie könnte nicht sagen, wo das wäre, sie weiß nicht den Straßennamen, aber die Richtung stimmt. Sie eilt die Touristenmeile entlang, schiebt sich an den äußeren Rand zur Straße, um vorwärtszukommen, ein Bus drückt sie in die Menschenmenge zurück, Taschen und Telefone hacken ihr in die Rippen, Sonnenbrillen bedrohen ihr Gesicht, Geschwätz, die Busabgase, gleich kippt sie um, denkt sie, boxt sich aus dem trägen Gewühl und drängt dicht an den Hauswänden voran.

      Es muss hier gewesen sein. Sie steht vor einem schrabbeligen Altbau mit verheulter Fassade. Das frühere einheitliche Zitronengelb ist abgerutscht, jetzt hängen schwarze Augenringe unter den Fenstern. Der Verkehr hat seine Farbe hinterlassen, der Regen sie verwischt. Ein Schild trägt den Hotelnamen. Schräg gegenüber ist ihre Wohnung. Die Wohnung, wo Herbert und sie vor dreizehn Jahren eingezogen waren. Seit zwölf Monaten wohnt sie dort allein mit den Kindern.

      Als sie die Wohnung damals gefunden hatte, freute er sich wie ein Rohrspatz. Herbert schüttelte sich manchmal beim Lachen. Immer wenn es überschwappte, wenn seine Freude größer war, als er es aushielt, entstand dieses Schütteln, das sie mit etwas erfüllte, das sie als Freude empfand. Sie wollte, dass er immer glücklich wäre, wollte bei Wartezeiten am Flughafen seinen schlummernden Kopf in ihrem Schoß bewachen, ihn zum Aufwachen küssen, ihm ständig erzählen, was sie dachte, mit ihm teilen, wie es ihr ging, wollte nur an seiner Schulter ins T-Shirt heulen, wenn es überhaupt sein musste. Mit ihm essen gehen, über sich lachen müssen, weil sie immer dasselbe bestellen und jede Eigenart mögen. Bei der Geburt des ersten Kindes mit ihm Lachkrämpfe kriegen. Ihn anschauen. Sie hat gedacht, genau das sei Liebe. Dass man sich immer freute, mit dem anderen zusammen zu sein. Sie hatte geglaubt, dass Liebe niemals enden könne, dass das physikalisch nicht möglich sei.

      Jetzt ist sie aufgeregt, ihr linkes Augenlid zuckt, das Haus schwankt. Sie muss es festhalten! Warum ist sie hier? Sie kann sich nicht erinnern. Lücke. Ein gelbes Haus? Gegenüber von ihrem? Hat Larry, ihr bester Freund, der schöne Larry, sich etwas bestellt, das sie für ihn abholen sollte? Warum denn hier? Sie hat kein Geld. Nicht mal ein Telefon. Sie hat nichts dabei. Vielleicht wird sie einfach vor diesem Haus warten. Aber worauf?

      Ein Mann mit rotblonden Locken und einer selbst gedrehten Zigarette im Mund öffnet die Tür, stößt gegen sie, aber er reagiert nicht, schaut nicht auf, klopft nur sein Feuerzeug gegen den Handballen und zündet seine Zigarette an. Er atmet laut aus und schließt die Augen. Ein Moped knattert vorbei. Herbert hatte genau diese Löckchen bekommen, denkt sie, als er anfing, seine Haare wachsen zu lassen. Nach fünf Jahren als Berufssoldat stieg er plötzlich bei der Bundeswehr aus. Um ganz bei ihr sein zu können, hatte er gesagt. Sein kurzgeschorenes Haar. Wie es sie erregte, mit den Fingern darüberzustreichen, als sie sich kennenlernten. Die kitzelnde Berührung auf der Handfläche. Und auf einmal wuchsen ihm diese rotblonden Locken. Sie explodierte vor Lachen, weil er so anders aussah und von einem Tag auf den anderen endlos auf dem Sofa in ihrer Küche hing, nur, sobald sie aus der Hochschule nach Hause kam, wie ein Hund um sie herum sprang und aufgeregt von Videospielen erzählte, die er entwickeln wollte, während er seine Erdnussflips in der ganzen Wohnung verteilte und sie mit dem Pflanzenaroma seiner Joints umhüllte.

      Sie wühlt mit beiden Händen in ihren Manteltaschen. Der Mann zieht seine Augenbrauen hoch und lässt den Mund aufklappen, in seinem kurzen Bart glitzern graue Haare. »Was machst du denn hier«, bellt er, »wo warst du denn auf einmal, vorgestern?« Er starrt sie an, seine Mundwinkel sind aufgesprungen, weißliche Spucke zieht darin Fäden.

      Sie weicht zurück und zieht ein zerknautschtes Päckchen Camel aus dem Mantel, sucht nach einer unversehrten Zigarette und steckt sich schnell die einzige nicht zerbrochene in den Mund. Als er ihr Feuer gibt, entblößen die hochgekrempelten Ärmel seiner Strickjacke rote Pusteln auf seinem Arm. Um sein Handgelenk silberne Kettchen. Seine Augen kommen ihr zu nah, schnelle Tierchen, die auf ihr herumkrabbeln, denkt sie, gelbe Zähne, sein Rauch kriecht ihr in den Kragen. Kennt sie diesen Typen?

      »Die ham noch den gesamten space unter Wasser gesetzt, die ganze rote Mall geflutet. Du Arme, kriegst auch nichts mit, hast ziemlich was verpasst.« Er grinst, scheint sich zu freuen, dass es ihm besser geht, und nickt, weil ihm nur das Beste gebührt. »Wohnste etwa auch hier?« Sein Hinterkopf deutet auf ein gelbes Schild, das über der Tür hängt. HOTEL HEDWIG steht in schwarzer Schrift darauf.

      Eine Dorfhoteltür. Dunkelbrauner Metallrahmen. Strukturiertes Glas.

      Hier ist sie mit ihren Kindern gewesen. Beide haben sie ihre Hand nicht loslassen wollen, also hat sie die Tür mit der Stirn aufgedrückt, an ihrem Arm baumelnd eine Tüte mit Nasi Goreng. Die Plastiktüte schnitt ihr ins Handgelenk.

      Die Kinder sind hier! In diesem Hotel!

      Sie dreht sich um, schnippt die Zigarette auf die Straße. Der Mann schnauzt: »Und wieder ist sie weg!«

      Sie geht durch die Tür.

      Sie haben das Strukturglas der Tür berührt. Mit den Fingerspitzen die Landschaften auf der Oberfläche erkundet.

      Der Flur ist jetzt leer. Die Theke unbesetzt.

      Sie hat fünfzig Euro bezahlt. Ein Doppelzimmer mit Frühstück, Klo auf dem Flur. Da stand eine kurzhaarige, stark geschminkte Frau hinter dem Tresen. Vor der hatte sie Respekt. War das Hedwig? Eine bestimmte Sorte praktisch veranlagter Frauen jagt ihr Unbehagen ein.

      Hinter der Theke führt eine Treppe mit rauchblauem Teppich nach oben. Sie sieht sich um und steigt dann die Stufen hoch, verharrt kurz, lauscht, aber sie hört nicht den kleinsten Mucks. Weil sogar der Mucks versteckt ist, denkt sie. Weil sie wahrscheinlich inzwischen das komplette Zimmer in eine Höhle verwandelt haben. Höhlen sind das Spezialgebiet ihrer Kinder, da macht ihnen keiner was vor. Sie erinnert sich an ihren letzten Geburtstag, als die Kinder ihr eine selbst gebaute Höhle geschenkt haben und sie fast den ganzen Tag darin verbrachten. Sie lächelt, sie haben sicher etwas für sie vorbereitet, das machen sie ja am liebsten.

      Sie hat was genommen. Das war’s. Sie war das letzte Mal hier auf irgendwas. Das sie nie genommen hat, vorher. Und sie hat Angst davor gehabt, wollte das nicht nehmen, aber sie musste. Wegen – was denn? Was war denn davor? Herbert hat traurig ausgesehen. Sie bleibt stehen, hält sich am Geländer fest. Atmet tief ein. Reibt sich die Nase. Ihr Gesicht ist nass, der Schweiß schmeckt sauer.

      Die letzten zwei Stufen nimmt sie mit einem Schritt. Der Boden knarrt, Teppich auf alter Diele. Vom Flur gehen fünf Türen ab, eine schmale Klotür steht weit offen. Es muss das Zimmer auf der anderen Seite sein, die Kinder waren ja mit ihr nach gegenüber aufs Klo getrampelt. Sie zögert. Sie wird die Tür öffnen und ihre Kinder in den Armen halten. Sie fängt an zu summen. Die Kinder sind sicher schon lange wach und vermissen sie. Ein Geburtstagslied, denkt sie, die beiden wollen immer Geburtstag spielen. Nein, nein, ihr fällt eine Arie aus dem Lohengrin ein, genau, die, wo Elsa zurückkehrt! Sie hört das Orchester und setzt ein, dabei reißt sie die Tür auf und stürzt aufs Bett zu.

      Das sind aber nicht ihre Kinder. Im Bett liegt ein Paar, eng umschlungen, Wange an Stirn. Die Frau wacht auf, schaut sie verschlafen an. Die beiden hier sind in einer anderen, einer sehr heilen Welt.