Der Krieg. Ilja Steffelbauer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ilja Steffelbauer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783710601385
Скачать книгу
Gaben des Königs annimmt, wird sein Gefolgsmann, doch wenn der König von seinem Gefolgsmann nimmt, hat er seine Macht über ihn verloren.

      Der Zorn des Achill entzündet sich an der Beleidigung, dass Agamemnon ihm seine Beute wegnimmt. Seine Reaktion ist innerhalb der Logik der heroischen Gesellschaft völlig klar: Er sieht sein Bündnis mit den Atriden als aufgelöst an und zieht sich aus dem Kampf zurück. Es ist eine dramatische Überspitzung, die das Epos braucht, um die Handlung voranzutreiben, dass nun mit seinem Ausscheiden durch göttlichen Ratschluss, Mama Tethis hat hier ihre Hand im Spiel, die Griechen keine Fortschritte mehr gegen die Trojaner machen. Erst als ein stärkeres Argument ins Spiel kommt – der Tod des Freundes Patroklos und damit Rache –, ist er bereit, die Beleidigung zu vergessen. Achill kehrt in die Schlacht zurück.

image

      Epen unserer Zeit: Durch das Werk des Oxford-Professors J.R.R. Tolkien sind wir erneut mit den Motiven der epischen Dichtung vertraut gemacht worden, die ihn sein ganzes Leben beschäftigten.

       Neue Helden

      Achilleus hat uns gut dabei gedient, die vorstaatliche Welt der eisenzeitlichen, achäischen „Häuptlinge“ und ihrer Wikingfahrten zu verstehen. Er ist ihr Vertreter in Reinkultur: brutal, kriegerisch, beutegierig und dünnhäutig. Die Epen aber wurden in der Form, die wir heute kennen, zu einer Zeit niedergeschrieben, als dieses Zeitalter bereits vorbei war. Eine neue Form des Zusammenlebens, die Stadt und die Polis, war entstanden. Eine neue Moralität hatte sich etabliert. Diese brauchte eine neue Art Held. Es ist kein Zufall, dass der große Gegner des Achill der Verteidiger der Stadt Troja und der eigentliche Sympathieträger im Epos ist: Hektor. Hektor steht für einen neuen Menschen, der die alten Werte – Beute, Ruhm und selbst die Familie – neuen Idealen opfert: Verantwortungsgefühl für das Gemeinwesen, Bürgerehre und Vaterlandsliebe. In seinem Abschied von Frau und Kind hat der Dichter zum ersten Mal in der abendländischen Literatur die Rechtfertigung formuliert, die noch viele Ehemänner und Väter vorbringen werden, in den Kriegen, die noch kommen. Andromache: „Liebster, dein Mut wird dich ins Verderben stürzen. Du nimmst keine Rücksicht auf unser Kind, das gerade mal sprechen kann, und auch nicht auf mich. Du wirst mich zur Witwe machen! Bleib doch dieses eine Mal in der Burg. Lass die anderen kämpfen.“ Doch Hektor kann nicht anders: „Mir liegt das auch am Herzen, du und der Kleine. Aber ich schäme mich vor unseren Mitbürgern, wenn ich andere kämpfen lasse und selbst der Gefahr ausweiche.“

      Der neue Held opfert sich. Er sucht im Krieg nicht mehr den Ruhm, sondern findet den Tod in Erfüllung seiner Pflicht. Hektor wird ihn in Gestalt des Achill finden. Einmal noch siegt die alte Welt über die neue, was auch richtig so ist, denn Hektor, der Schirmer der Stadt, muss, um Held zu sein, für die sterben, die er liebt – für seine Stadt, für seine Frau und seinen Sohn: „Nachdem er das gesagt hatte, streckte Hektor seine Hände nach dem Kind aus. Der Kleine aber schmiegte sich weinend an die Brust seiner Amme. Er fürchtete Hektors Helm mit dem hohen Rosshaarbusch, hinter dem er nicht das liebende Gesicht seines Vaters erkannte. Da lachte Hektor und nahm den Helm ab, legte ihn auf die Erde und wiegte seinen Sohn in den Armen, bis er zu weinen aufhörte.“

       Nachlese

      Gute deutsche Übersetzungen der epischen Dichtung sind nicht leicht zu bekommen. Die meisten sind schon eher älteren Datums und durch ihre altertümliche Sprache, die sich dann auch noch bewusst archaisierend ausdrückt, für den heutigen Leser schwer erträglich. Zu populären „Nacherzählungen“ ist nur bedingt zu raten, da sie, wie im Text angemerkt, durchwegs die Elemente der epischen Dichtung aussparen, die unter unserem Gesichtspunkt am interessantesten sind. Für die Ilias und Odyssee ist die deutsche Übersetzung von Roland Hampe bei Reclam (beide 1986) zu empfehlen. Das Hildebrandsliedfindet man in: „Althochdeutsche poetische Texte“ von Karl A. Wipf (Reclam, Stuttgart 1992). Für den Ulster-Zyklus muss man wohl oder übel auf die englische Übersetzung zurückgreifen: John T. Koch und John Carey „The Celtic Heroic Age: Literary Sources for Ancient Celtic Europe & Early Ireland & Wales“ (Celtic Studies Publications, 4. Auflage, Aberystwyth 2003).

      Es gibt keine komplette Übersetzung des Mahabharata ins Deutsche. Als klassische Übersetzung ins Englische gilt: Kisari Mohan Ganguli „The Mahabharata of Krishna-Dwaipayana Vyasa“ (Indien 1883–1896, zuletzt als 4-bändige Taschenbuchausgabe: Munshiram Manoharlal, New Delhi 2004). Eine deutsche Teilübersetzung ist: Biren Roy (Hrsg.) „Mahabharata. Indiens großes Epos“ (10. Auflage. Diederichs, Köln 1998, erstmals 1958 auf Englisch veröffentlicht).

      Für das homerische Griechenland ist Moses I. Finleys „Die Welt des Odysseus“ (1. Auflage, englisch 1954, deutsch im Campus-Verlag, Frankfurt 2005) immer noch eine vortreffliche Einführung. Wer eine ernsthafte Beschäftigung mit der keltische Welt anstrebt, kommt um Helmut Birkhans monumentales „Kelten. Versuch einer Gesamtdarstellung ihrer Kultur“ (Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1997) nicht herum. Vor den ebenso zahlreichen wie irreführenden Keltendarstellungen auf dem populären Buchmarkt sei gewarnt. Die Wikingerzeit hat zuletzt Rudolf Simek kompakt in „Die Wikinger“ bei C. H. Beck, München 1998, beschrieben. Von ihm stammt auch eine Einführung in „Die Edda“ (C. H. Beck, München 2007). Das sozialanthropologische Konzept des „Chiefdom“ findet sich gut und lesbar erklärt in: Marvin Harris „Kannibalen und Könige“ (Klett-Cotta, 1998).

image image

       DER SÖLDNER

       Xenophon, Sohn des Gryllos

      * zwischen 430 und 425 v. Chr., Athen

      T nach 355 v. Chr., Korinth

      „Thálatta! Thálatta!“ setzt sich der Ruf durch die Reihen fort. Zuerst undeutlich, dann allmählich verständlicher verbreitet er sich von der Spitze der langgezogenen Marschkolonne, die dabei ist, einen weiteren jener vielen Bergrücken zu übersteigen, die das unruhige Relief Ostanatoliens dem Heerzug seit seinem Aufbruch aus dem Tiefland des Irak entgegengestellt hat. Die Erleichterung, die mit dem Ruf die Krieger erfasst, war selbst noch für widerwillige Schüler spürbar, die den Text mehr als zwei Millennien später als Erstlektüre zum Erlernen des Griechischen vorgesetzt bekamen. Der Verfasser des Textes: Xenophon, Athener, Sohn des Gryllos aus dem Demos Erchia, Schüler des Sokrates, Autor, Exilant, Abenteurer, Söldner. Seine schnörkellos-klare Sprache und lupenreiner attischer Dialekt prädestinierten sein Werk zur Schullektüre. An diesem Tag hat er das Kommando über die Nachhut und – nicht weiter verwunderlich nach den vorangegangenen Erfahrungen des Marsches – vermutet im ersten Moment einen Angriff auf die Spitze der Kolonne. Erst während er selbst mit seinen berittenen Offizieren nach vorne hetzt, um den Grund der Aufregung zu erfahren, wird der Ruf im Raunen der Masse von Kriegern, Dienern, Sklaven, Trossleuten und Gefangenen deutlich hörbar: „Das Meer! Das Meer!“ Nach schier unglaublichen Anstrengungen und brutalen Kämpfen war es den griechischen Söldnern, denen sich der junge Athener aus reiner Abenteuerlust angeschlossen hatte, endlich gelungen, den Gebirgen und Wüsten Asiens zu entrinnen. Mit schonungsloser Offenheit erzählt der Chronist des Marsches Plünderungen, Geiselnahmen und Intrigen. Er schildert alles, was ein zusammengewürfelter Haufen von Glücksrittern bereit ist zu tun, um zu überleben.

      Mehr als ein halbes Millennium ist seit den Tagen der Helden vergangen. Aus den kleinen Reichen der Räuberbarone Griechenlands sind Poleis geworden, Stadtstaaten mit noch heute klingenden Namen wie Athen und Sparta, Korinth und Theben, Argos und Megara. In der Morgendämmerung der griechischen Welt hatten die Enkel und Urenkel der Heldenkönige ihre übervölkerte Heimat verlassen und waren zu Kolonisten geworden. „Wie Frösche um einen Teich,“ so Platon, haben sie ihre Städtegründungen aus der Ägäis und dem griechischen Mutterland über die