Der Krieg. Ilja Steffelbauer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ilja Steffelbauer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783710601385
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man sich ansiedeln konnte, weil die Einheimischen militärisch schwach und politisch schlecht organisiert waren, gründete man Städte und nahm Ackerland in Besitz, von dem es in der kargen bergigen Heimat immer zu wenig gab. Wo man sich nicht halten konnte, plünderte und raubte man. Wo man nicht rauben konnte, weil man auf starke Staaten oder kriegerische Stämme stieß, betrieb man Handel. An jeder Küste der beiden Binnenmeere sind griechische Kolonien, griechische Seefahrer, griechische Händler und griechische Söldner zu finden. Der Schritt vom Plünderer zum Söldner ist kürzer als man denken möchte: Statt zu rauben, lässt man sich dafür bezahlen, die nächsten Räuber abzuwehren. Auch so kann Gewalt zu Geld gemacht werden. König David hatte griechische Söldner aus Kreta an seinem Hof: Krethi und Plethi eben. Die Letzteren waren Philister, auch so ein Seeräubervölkchen, das in der großen Umwälzung am Ende der Bronzezeit vor der Jahrtausendwende in den Nahen Osten gelangt war und möglicherweise mit den Griechen seine Heimat in der Ägäis teilte. Manche möchten sie mit den Pelasgern, den vorhellenischen Einwohnern Griechenlands und Kretas, identifizieren. Zwar wird der einst von der Forschung behauptete „Seevölkersturm“ um 1200 vor Chr, heute meistenteils nicht mehr als eine Völkerwanderung gesehen, doch als eine Periode erhöhter Aktivität und Mobilität von kriegerischen Banden im ganzen östlichen Mittelmeerraum erscheint jene Zeit in jedem Fall. Diesen Seeräubern fiel wohl die erste Hochkultur der Ägäis zum Opfer, die wir die „mykenische“ nennen, das Reich der Hethiter in Kleinasien und fast Ägypten, wenn Ramses III. sie nicht zurückgeschlagen hätte. Es sollte mehrere Jahrhunderte dauern, ehe sich die Lage wieder beruhigte, eben jenes dunkle Heldenzeitalter der Epen, die die unruhige, räuberische und heroische Lebenswelt jener Epoche verklärt und mit mythischem Brimborium aufgebauscht schildern.

      Die Griechen, darüber darf man sich keine Illusion machen, sind halbbarbarische Nachzügler in einer viel älteren Kulturwelt. Sie sind sich dessen auch bewusst, imitieren in ihrer Kunst zuerst den Alten Orient und Ägypten, staunen über die Weisheit des Ostens und beneiden ihn um seinen Reichtum. Erst später, mit dem wachsenden Selbstbewusstsein, das die kulturelle Blüte des „klassischen“ fünften Jahrhunderts mit sich bringt, mischt sich in diese Hochachtung ein skeptischer Unterton, eine Geringschätzung der feinen Lebensart und des östlichen Luxus, dem man keinen guten Einfluss auf den Charakter der Orientalen zutraut. Auch so kann man aus der eigenen materiellen Not eine moralische Tugend machen. Eine große Erzählung von östlicher Dekadenz und westlicher Freiheit entsteht, die noch lange in der Geistesgeschichte nachklingen wird. In ihrem Kern findet sich eine politische Analyse: Die Orientalen sind alle Sklaven, in der einen oder anderen Weise von einem Oberen abhängig, in letzter Instanz vom Herrscher, Großkönig, dem Pharao selbst, während die Griechen sich selbst als eine Gesellschaft von Freien begreifen, in der die Herrschenden auf die Zustimmung der Beherrschten angewiesen sind und die Besten – áristoi, wie in Aristokratie, bedeutet genau das – herrschen. Man darf sich von der publizistischen Aufbauschung der attischen Demokratie nicht täuschen lassen: Die meisten griechischen Poleis, allen voran das mächtige Sparta, waren Aristokratien, in denen eine Elite, Nachkommen der homerischen Räuberbarone und ihrer Spießgesellen, den Ton angaben.

       Hopliten

      Diese Aristokraten waren immer noch Reiter, Krieger und Grundbesitzer, daneben mittlerweile auch Richter, Investoren und Politiker; doch hatte eine militärtechnische Innovation während der Dunklen Jahrhunderte den Status der Gemeinen merklich aufgewertet. Schon in den Epen treten Formationen von Kriegern auf. Die Erzählung konzentriert sich natürlich, um dem Publikum zu gefallen, auf die Duelle der Helden, doch im Hintergrund steht immer das Heervolk in dichten Reihen, aus denen sich die viel gerühmte griechische Phalanx entwickeln wird. Phalanx heißt „Walze“ und so funktioniert sie auch auf dem Schlachtfeld: Eine unaufhaltsame Masse von bronzegepanzerten Kriegern, die, einen Wald von Speerspitzen voran, auf den Gegner zurollt. Die Phalanx ist die griechische Antwort auf die ewige Frage, was man mit wenig trainierten Teilzeitkriegern auf dem Schlachtfeld machen soll. Sie haben nicht die Erfahrung und das lebenslange Training im Gebrauch von Waffen wie die Adeligen und ihre Gefolgschaften aus Profikriegern. Ihnen fehlt vor allem der Ehrenkodex und individueller Kampfeswille – auch die seelische Abhärtung, die mit einem Leben als Krieger einhergeht –, um allein ihren Mann zu stehen. Also gibt man ihnen die Kombination von Waffen in die Hand, die am einfachsten zu handhaben ist: Schild und Speer. Und Anweisungen wie: „Nimm das große Brett und versteck dich dahinter! Nimm die lange Stange und piekse den Feind mit dem spitzen Ende, so lange er noch weit genug weg ist, dass er dir nichts tun kann! Damit du dich nicht so fürchtest, geh mit deinem Nebenmann auf Tuchfühlung, dann kannst du auch nicht unerwartet von hinten oder von der Seite angegriffen werden! Bleibt dicht zusammen, dann kann euch nichts passieren!“ All das gibt Sicherheit. Mit der Gruppe kommt ein Gefühl der Kameradschaft auf. Man will den anderen nicht „im Stich lassen“. All das verleiht den dichten Formationen des Fußvolkes Standvermögen. Heute weiß die Militärpsychologie, dass Soldaten vor allem für ihre Kameraden kämpfen, Risiken eingehen und schlimmstenfalls sterben. Das Individuum ist vernünftig: Es nimmt Reißaus. Erst in der Gruppe wird der Mensch mutig. Kohäsion nennen das die Taktiker, jenes unsichtbare Band, das aus einem Haufen Einzelpersonen eine Einheit macht. Reißt es, wird aus einer gerade noch bedrohlichen Formation ein chaotischer Haufen, in dem sich jeder selbst der Nächste ist. Schwarmverhalten nennen es die Sozialpsychologen: Die unbewusste Fähigkeit und Neigung des Menschen, sich mit der Gruppe zu bewegen, das eigene Verhalten an der Gruppe und an dem von Führungspersönlichkeiten in der Gruppe auszurichten. Man kann es schlimmstenfalls im urbanen Alltag sehen, wenn eine Menschenmasse, die zur Rushhour völlig problemlos durch die engen U-Bahn-Anlagen strömt, durch nichts als einen lauten Knall zu einem panischen Mob rücksichtslos um ihr Leben rennender Individuen wird, der die Schwächsten in seinem Weg zu Tode trampelt – nur weil irgendein Wichtigtuer laut genug brüllt, er wüsste einen Ausweg. Auch in der Politik soll es das geben. Dementsprechend führen die Kommandanten einer Phalanx aus der ersten Reihe. Spartanische Könige, umgeben von ihrer Leibwache, fallen in der Schlacht deswegen ungewöhnlich häufig mit ihren Männern, nicht nur, wenn sie – wie Leonidas an den Thermopylen – ein Himmelfahrtskommando anführen. Rhythmus hilft Schwarmverhalten zu verstärken. Das ist der Ursprung der Militärmusik. Bei den Griechen marschieren Flötenspieler mit der Phalanx und zum Angriff stimmen alle in den Päan ein, einen rhythmischen Sprechgesang. Der macht Mut und geht auf einen Bittgesang an Apoll zurück. Der Inhalt ist einfach erklärt: „Bitte schütze uns!“ Angst und Mut sind zwei Seiten einer Medaille.

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      Der schrecklich dröhnende Moment: Phalanx prallt auf Phalanx.

      Griechische Vasenmalerei, protokorinthisch, um 640/30 v. Chr.; Rom, Museo Nazionale di Villa Giulia

      Rasch beginnt man, die Bewaffnung und Ausrüstung an die neue Kampfesweise anzupassen: Am augenfälligsten in Gestalt des großen, runden, schüsselförmigen Schildes – hóplon auf Griechisch –, der so konstruiert ist, dass er eng am Körper geführt wird und seitlich übersteht, sodass er die rechte Seite des Nebenmanns mitdeckt. Hoplit heißt infolgedessen der schwer gepanzerte Fußsoldat. Im Einzelkampf ist so ein Schild nutzlos, da man ihn kaum bewegen kann, um einzelne Hiebe des Gegners abzuwehren, in der Formation jedoch doppelt wirkungsvoll, indem er erlaubt, dicht beieinander zu stehen und eine geschlossene Front zu bilden. Den Schild wegzuwerfen, ist daher auch die erste vernünftige Handlung des Flüchtenden: „Entweder kommst du mit deinem Schild zurück, oder auf ihm,“ ermahnt dementsprechend die Mutter den Spartaner und der Dichter Achilochos witzelt: „Mit meinem Schild stolziert jetzt ein Saier einher: Am Buschrand ließ ich ihn ungern fahren, die fehlerlose Wehr. Ich selbst entkam so dem tödlichen Ende. Der Schild, der besagte, er lebe wohl! Demnächst schaff ich mir einen um nichts schlechteren an.“

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      Militärmusik ist lebende Tradition: Dudelsackpfeifer der indischen Armee im Kilt erinnern an die lange britische Herrschaft auf dem Subkontinent.

      Die Phalanxtaktik ist ein wahrhaft durchschlagender Erfolg. In offener Formation vorgehende Einzelkämpfer sind gegen die tödliche Walze chancenlos. Pferde