Für James W. Fowler (1989, 44 f.) fragt sich, wie weit das Nirvana im Hinduismus und Buddhismus und das Reich Gottes bei dem amerikanischen Theologen H. Richard Niebuhr nicht formal gewisse Parallelen zeigen im Blick auf ein Konzept von Transzendenz, das nicht eine „andere Welt“ meint, „weit weit weg“, sondern „diese Welt, in der man wahrhaftig, mitfühlend lebt“. Auf solche fernöstliche Parallelen geht das 5. Kapitel diese Arbeit näher ein.
Menschen wussten sich seit Jahrtausenden durch die Unberechenbarkeiten und Unsicherheiten des Lebens in dieser Welt bedroht und suchten Stütze und Stabilisierung in Religion als „Kontingenzbewältigung mit Transzendenzbezug“ (Fiedler in Szagun/Fiedler 2008, 492, 545 f.; vgl. Oser/Gmünder 1988, 44). Die moderne Gesellschafts- und Werteentwicklung hat diese Stütze brüchig werden lassen. Das zeigt sich in unserem Kulturkreis in der „reihenweise[n …] lapidare[n] Verabschiedung von Gott samt Christentum und Kirche“ (Nipkow 1998, 244). Doch das Streben nach Halt angesichts von Krankheit, Tod, Elend und Verzweiflung bleibt lebendig. Das bedeutet, die zunehmende „Kluft“ zwischen institutionalisierter Kirchlichkeit und unmittelbaren religiösen Bedürfnissen führt zum „Ausbluten“ der ersteren und andererseits zugleich zu einer Vielfalt „erfahrungsnahe[r] freie[r] Religiosität“ (Klosinski in Loccumer Protokolle 13/16, S. 113): „Die freigesetzte, von den Kirchen nicht mehr gebundene religiöse Substanz strahlt außerhalb der gewohnten Ordnungen auf und bildet eigene Wirkungsfelder aus“ (Nipkow 1984, 91), z.B. die Kirchentage, Meditationsgruppen westlicher und östlicher Prägung, Erlebniswochen in Taizé und eine Vielfalt anderer Aktivitäten. Für die Kirchen jedoch ergibt sich damit, so heißt es, die Aufgabe, „in selbstloser Weise […] die nicht kirchlich behauste Religiosität [zu] unterstützen“ (Zulehner/Denz 1993, 238) – eine weitgesteckte und bislang keineswegs erfüllte Reform-Erwartung.
[27]Durch die moderne technische und kommunikative Entwicklung ist die Welt gleichsam kleiner geworden. Den Kulturgemeinschaften ist es nur noch schwer möglich, sich abzuschotten und isoliert zu halten. Diese Entwicklung ermöglicht den leichteren Austausch, gefährdet aber auch die Bewahrung von Besonderheiten. Die schützenden Mauern werden niedriger und „löchriger“, hieß es im vorausgehenden Abschnitt. Damit ist an bekannte Aspekte des Pluralismus erinnert. Auch die Religiosität nimmt dabei in westlichen Ländern eine „pluralisierte, individualisierte und privatisierte Gestalt“ an (Schweitzer 1998, 97). Und mit dem Rückzug aus den Institutionen wird sie gleichsam „unsichtbare[r]“ (Luckmann, zitiert bei Baader 2005, 275), verglichen mit den sozial sichtbaren religiösen Institutionen (Zulehner/Denz 1993, 234), d.h. verlegt ihre Substanz stärker ins Private. Pluralisierung und Vielfalt bedeuten also zugleich Individualisierung. Das Individuum ist relativ frei, aber auch gezwungen, seine persönliche religiöse Form und Bindung zu finden bzw. zu konstruieren, vielfach auch ein Sammelsurium aus dem „Warenlager“ gesellschaftlicher Angebote synkretistisch zusammenzubasteln (vgl. Nassehi 1996, 43 f.). Richtungweisend dabei ist die „Authentizität“ der individuellen Erfahrung, ein „Charakteristikum von Religiosität in der Moderne“ (Baader 2005, 65). Eingeschränkt wird diese individuelle Wahl und Gestaltung der eigenen Religiosität allerdings durch die spezifische kulturelle Herkunft und Umwelt, in welcher das Individuum jeweils aufwächst und lebt, und durch andere ‚Zufälle‘ seines Schicksals (Englert 2002a, 27 f.).
Angesichts der Beliebigkeit dessen, was einem Individuum „heilig“ sein kann, bis hin zum Liebesbrief, Mofa, „die Murmel in meiner Tasche“ u.a. scheinbar prophanen Dingen (Sauer 1993, 18), zum Playboy und zur Popmusik, zu Heilsbringern wie New Age und östlicher Meditation, fragt sich allerdings, von welcher Grenze an es dabei um „Religiosität“ bzw. „Spiritualität“ gehen soll, und nicht mehr um willkürliche Sinn-Kreationen. Das heißt, wie weit soll in den folgenden Ausführungen dieses Bandes ausschließlich das Kriterium subjektiven Erlebens von „Heiligkeit“ zur Bestimmung des hier verwandten Begriffes von „Spiritualität“ gelten oder dieser durch objektive Kriterien mitbestimmt werden wie etwa das bereits erwähnte eines Zugangs zum „umgreifenden Ganzen“ (Dewey)? Die Diskussion der letzten Jahrzente zur Bedeutung von „Religion“ und „Religiosität“ schwankt zwischen beiden Konzepten und damit auch zur Frage, ob es für die Mehrheit, zumindest unter den Heranwachsenden, die sich von den institutionellen Festlegungen der Religion durch die Kirchen und den Dogmen der christlichen Offenbarung distanziert, die Möglichkeit einer „religiösen“ Orientierung gibt, welche einen ähnlich substanziellen Tiefgang erreicht wie die der traditionellen Konfessionen und überhaupt der Hochreligionen. Das wird nicht leicht sein, denn zum einen haben sich in diesen Überlieferungen Jahrtausende alte Erfahrungen und ‚Weisheiten‘[28] des Umgangs mit dem letzten Sinn inkarniert. Und zum anderen geht mit der Zurückweisung der überlieferten religiösen Formenwelt an Ritualen, Riten, Praktiken etc. auch erst einmal deren Gehalt verloren, so dass sich die Frage ergibt, wie eine neue religiöse Sinnverwurzelung angestrebt bzw, erreicht werden kann, eine neue Sinnvertiefung also. Dazu wird u.a. das 2. Kapitel über das Seins-Vertrauen eine Antwort suchen.
So viel hat die Diskussion der letzten Jahrzehnte deutlich gemacht: die offensichtlich zum Mensch-Sein gehörende Frage nach dem letzten Sinn, nicht nur des Leidens, führt nicht notwendig zu dem, was traditionell als „Gott“ verstanden worden ist. Das übliche Gotteskonzept, „der Glaube an einen persönl. überweltl. Gott, der […] die Welt als seine Schöpfung erhält, das Weltgeschehen lenkt und im Glauben existenziell erfahren wird“ (Meyers 2003, Bd. 23, S. 7506), ist als Orientierung für eine universale, d.h. Kulturen übergreifende, weltweite Bestimmung ultimater Sinnbindung bzw. Religiosität nicht geeignet. Und er ist auch nicht erst heute mit Glaubenskriegen, Völkermord, Tsunamis u.a. Schicksalsschlägen schwer vereinbar (Theodize), so sehr, dass die Weiterverwendung des Gottesbegriffs, wie sich zeigen wird, sich für die Förderung und Pflege von Religiosität als kontraproduktiv erweisen kann. Von einem anderen Gottesbild berichten Fritz Oser und Anton Bucher (1992, 260): Eli Wiesel erlebte, wie in Auschwitz, vor versammelten Häftlingen, ein 14jähriger am Galgen eine halbe Stunde mit dem Tode rang. Da hat einer der Häflinge gerufen: „Wo ist Gott?“ und Wiesel in sich eine Stimme antworten gehört: „Hier ist er … Er hängt dort am Galgen“ (nach Dorothee Sölle).
Hubertus Mynarek (1983) hat in einer Befragung Selbstzeugnisse zu einer Religiosität ohne Gott gesammelt. Einige davon wurden im vorausgehenden Abschnitt zitiert. Bei aller Vielfalt der Aussagen zeigt sich eine Orientierung am alles „Umgreifende[n]“, an der Verbundenheit mit dem „unendlichen Kosmos“ und der Ordnung und Gesetzlichkeit der Natur, wobei der Mensch zusammen mit allem Seienden erlebt wird als „Faser im Gewebe des Seins“ (a.a.O. 103, 115 f., 211). Das spätere Kapitel über den Buddhismus wird zeigen, wie für diesen „Erleuchtung“ (Satori) die Überwindung der Ichheit in deren Aufgehen in einer weder-ich-noch-nicht-ich allumfassenden Einheit bedeutet.
Ein Modell der Überwindung abgelöster Ichheit lebte uns Jesus vor. Er lebte aus der unlösbaren Bindung an den „Vater“. Das heißt, er war Einheit mit dem Schöpfer und dessen Schöpfung so überzeugend, dass seine Ausstrahlung seither bis heute, 2000 Jahre später, Millionen Menschen in aller Welt beeinflusst, viele in ihrem Lebensverlauf so total wie etwa Mönche oder Mutter Teresa. Allerdings wandelte sich Jesu Gestalt wie auch die anderer Religionsstifter (z.B. Buddha) durch Legendenbildung (dem Menschen ist es schwer, ohne seine ‚Heiligen‘ zu leben) und durch Jesu Umformung zum „Christus“ durch die Evangelisten 80 Jahre nach seinem Tode sowie durch[29] die weitere Kirchengeschichte, so dass die Theologie vor der schwierigen