Sinnvertiefung im Alltag. Fritz Bohnsack. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fritz Bohnsack
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783847409441
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zu rasieren. Um den Teppich einigermaßen staubfrei zu erhalten, macht es Sinn, einen Staubsauger einzusetzen. Wenn man geschäftlich viel unterwegs ist, erweist sich ein eigenes Auto vielleicht als sinnvoller als die Abhängigkeit von Fahrplan und Streiks der Deutschen Bahn. Das Ziel der Reduzierung des CO2-Ausstosses, um die Erderwärmung zu begrenzen, weist fast schon in eine andere Sinndimension, die sich nicht mehr auf den unmittelbar erfahrbaren Kausalbezug von Maßnahmen als Mittel zum Erreichen wünschenswerter Zwecke begrenzt, sondern Entscheidungen aus weltweiter Verantwortung voraussetzt.

      Der Versuch einer Beantwortung dieser Frage führt zu einer Vielfalt von Bedeutungsrichtungen. Sinn ist das, was eine spezifische Gruppe, Gemeinschaft, Gesellschaft oder Tradition für sich als Sinn festgelegt hat, heute mehr denn je aber auch das, was der Einzelne – nicht frei von diesem Angebot – für sich selbst als Sinn ausgewählt und akzeptiert hat und als Sinn in seinem Leben erfährt.

      Ein Lexikon wie Meyers (2003, Bd. 21, S. 6890) definiert Sinn als

      „die Bedeutung bzw. der Wert einer Sache, eines Vorgangs, eines Erlebnisses für jemanden oder etwas, daneben auch gleichbed. mit Zweck, Funktion […]. Sinnvolles Handeln strebt einem Ziel zu, das selbst einen Wert darstellt“.

      [14]Ein Blick in das Duden Synonymwörterbuch (2007, S. 796 f.) mag einen ersten Hinweis auf die Vielschichtigkeit dieses Begriffes andeuten. Hier erscheinen: Nutzen, Wert, Ziel, Zweck; Bedeutung, (Sinn)gehalt; Bewusstsein, Denkart, (Grund-)Einstellung, Gesinnung, Lebensanschauung, Wesen; Empfinden, Geschmack, Verständnis und Wahrnehmungsfähigkeit.

      Zum Teil weniger abstrakt haben Essener Studenten 1983 auf die Frage, was „Sinn“ eigentlich sei, geantwortet (schriftl. Befragung; vgl. Bohnsack 1984, 5): 1. Sinn = Bedeutung: Bedeutung, Gehalt, Lebensinhalt. Wissen, wofür und warum man etwas macht. Begründung, Hintergrund-Zusammenhang. 2. Sinn = Ziel: Wissen, was man will, wo es lang geht, Verwirklichung einer Vorstellung, Lebensperspektive. 3. Sinn = Zweck: Funktion, Nutzen, Effektivität. Lohnt es sich? 4. Sinn = Motiv: Für wen und was setze ich mich ein und warum? 5. Sinn = Zufriedenheit, Sicherheit, Identität.

      Heutige Studenten könnten sich ähnlich äußern.

      Das Sinn-Streben richtet sich auf Sicherung und Steigerung der Existenz, in Industrienationen vor allem in der Befriedigung durch Arbeit und Konsum. Eine europaweite Untersuchung ergab folgende Reihenfolge der (abnehmenden) Bedeutung von Aspekten der Berufsarbeit:

gute Bezahlung
nette Arbeitskollegen
interessante Tätigkeit
Sicherheit der Anstellung
Passung zu eigenen Fähigkeiten
Ermöglichung von Leistung und eigener Initiative sowie Mitverantwortung
gesellschaftlich anerkannte und geachtete Tätigkeit
Aufstiegsmöglichkeiten etc.

      „Der Anteil der Menschen, die ihr Leben für sinnlos halten, ist in Europa sehr niedrig“. Als wichtig erlebt werden tägliche Lebensbedingungen wie Gesundheit, ökonomische Sicherheit, stabile und liebevolle Beziehungen (Zulehner/Denz 1993, 139, 241). Angesichts der Unsicherheiten (Kontingenz) der Alltagsbewältigung strebt der Mensch nach „Kontrolle“ und Bewahrung von „Selbstachtung“ (Hanisch 2000, 157). Und das Bemühen, nach dem Entdecken von Belanglosigkeit in der Vielseitigkeit des Interessanten den Schein des Vordergründigen, Oberflächlichen, Vorläufigen zu tieferer Sinnerfahrung zu durchdringen, ist immer noch nicht ganz verdrängt und vergangen, sondern offenbar wieder „im Kommen“ (so Mynarek schon 1983, 83 f.).

      Das besagt aber auch: Neuzeitliche Entwicklungen haben die Sinn-Problematik verändert und verschärft. Comenius etwa ging noch von einer umfassenden einheitlichen göttlichen Schöpfungsordnung aus, welcher eine [15]Sinn-Ordnung entsprach, die weder historisch als veränderlich noch als durch „Partialpraxen“ begrenzt angesehen wurde. Sinnvoll war menschliches Leben in dem Maß, wie das Individuum sich dieser Seinsordnung einfügte und ihrem Auftrag folgend handelte (Hanisch 2000, 166; Wollersheim 2000, 98 f.). Die neuzeitliche Einsicht in die globale Verschiedenheit der Sinnsysteme und Akzeptanz dieser Differenzen als prinzipiell gleichberechtigt – zentrales Vorzeichen des Pluralismus – verhindert die Rückkehr zu einer uniformen Sinnordnung, wenngleich z.B. Versuche, die Scharia weltweit durchzusetzen, weiterhin oder erneut ihre Absolutheitsansprüche verteidigen.

      Darin kommt eine menschliche Grundhaltung zum Ausdruck. Die Vielfalt des Pluralismus hat die seit jeher bestehende Unsicherheit dieser Welt zur Desorientierung erhöht: Angst motiviert zum Streben nach einer umfassenden Sinn-Sicherung, nicht nur invividuell für sich selbst, sondern bestätigt durch die Gleichartigkeit der Anderen. Es geht dabei um einen Kampf um die (innere) ‚Heimat‘, auf deren Grundlage die Belastungen dieser Welt bewältigt werden sollen. Doch eben diese individuelle Sinn-Integration bzw. -Kohäsion, die Entwicklung von Selbstkonsistenz, vor welcher der Einzelne heute steht, wird erschwert durch die divergierenden Anforderungen aus seiner Umwelt: Gesellschaftliche Bereiche wie Wirtschaft (Konkurrenz, Profit, Wachstum), Politik (Macht), Verwaltung, Recht, Familie oder Kirche haben ihre unterschiedlichen Sinnordnungen, welche jeweils das Handeln bestimmen und die der Notwendigkeit der persönlichen integrierenden Identitätsbildung entgegenstehen (nach Luckmann). Der Sinn betrifft Gegenwart und Zukunft. Die letztere aber wird gefährdet, wenn etwa das „Wachstum“ weiterhin die Umwelt oder das Machtstreben (Atomkrieg) die Welt zerstört. Die Bedrohung ihrer Zukunft, auch durch die gesellschaftliche Verschuldung, wird insbesondere von Jugendlichen als Sinnverlust erlebt.

      Auch in früheren Jahrhunderten homogenerer Sinnordnungen hat es Unterschiede individueller Sinnbesetzung und Sinntiefe gegeben. Die Möglichkeiten eines Ausweichens vor einer vertieften Sinnerfassung sind jedoch deutlich gestiegen. Vielfach misslingt die subjektive Beherrschung und Begrenzung der Informationsflut mit ihrer Inflation von Identifikationsangeboten, der Einflüsse von Werbung, Kauf- und Freizeitofferten, politischer Propaganda, der drogenhaften Abhängigkeit von Fernsehen, Laptop, Smartphone oder auch Diskothek, Videothek, Fußballplatz. Die zwanghafte Sinnsuche heftet sich an den gesellschaftlichen Status und Aufstieg in der sozialen Hierarchie, repräsentiert durch die entsprechende Automarke, also an das Besser-Sein als andere – meist auf deren Kosten. Aus der Ruhelosigkeit des Nie-am-Ziel-Seins mutiert der Beruf zur Erfolgssucht und endet heute für manche Beobachter rasant zunehmend im Burnout und nicht selten (nach Friedman/ Rosenman, 1975, Typ A) mit dem Herzinfarkt. Und die atemberaubende Beschleunigung, welche fast alle Gesellschaftbereiche und Lebensaspekte ergriffen hat und durchdringt, lässt sich auch verstehen als Flucht vor der aus[16] der Oberflächlichkeit resultierenden Sinn-Leere. Die Beschleunigung verbindet sich mit der narzisstischen Sucht nach Größe und Stärke und der Verachtung von Schwäche, mit der Gewalt gegen diese und im Amoklauf und Suizid auch gegen sich selbst. Erich Fromm sprach von der „Rache des ungelebten Lebens“ (zitiert bei von Hentig 1979, 51). Spätere Partien dieses Bandes gehen auf solche Fehlwege des Ringens um den eigenen Lebenssinn und des Ausbrechens aus der Sinn-Problematik näher ein.

      Über die Entstehung von Sinn deutete sich im Vorstehenden einiges an. Beim Kleinkind entsteht erlebter Sinn aus seinen unmittelbaren Bedürfnissen, etwa nach Zuwendung, Wärme, Nahrung, Versorgung; und aus seiner praktisch zugreifenden ‚Eroberung‘ seiner Umwelt (detaillierter Nipkow 2000 und die dort angegebene Literatur). Solcher Sinn differenziert sich mit der kindlichen Entwicklung und Welterfahrung, aber auch mit den Widerständen und Enttäuschungen, die der Heranwachsende von Anfang an bewältigen muss. Dabei ist auch die Bildung von Neurosen als Kampf um Sinnhaftigkeit deutbar (vgl. Miller 1983; dazu Näheres im 7. Kapitel). In diesem Entwicklungsprozess werden neue Erfahrungen zunehmend auf frühere eigene und auf in der umgebenden Kultur deponierte Problemlösungen und Werte bezogen – das heißt auf die bei allem Pluralismus weiter bestehende jeweils lokale Matrix aus Erwartungen, Gewohnheiten, Sitten, Ritualen und Techniken, welche das individuelle Verhalten beeinflussen und ihm Sinn geben bzw. stimulieren, Sinn zu schaffen. Doch außer dem gesamtgesellschaftlichen Sinnkonsens ist auch der Konsens dieser einzelnen „Sinngemeinschaften“