Der Sinn von Schule gründet sich auf der Annahme, dass institutionalisiertes Lehren und Lernen zur Sinnentstehung und -vertiefung beiträgt, d.h. Bildung bewirkt. In einer gewissen Analogie zum Bildungsprozess ist verschiedentlich versucht worden, eine progressive Entwicklung von biographischen Sinn-Entwicklungen fest- und aufzustellen. Jean Piaget wurde dabei zu einer Art Vorbild mit seinen Untersuchungen zur moralischen Entwicklung des Kindes, Lawrence Kohlberg folgte mit seiner einflussreichen Aufstellung von Stufen der sittlichen Entwicklung, James W. Fowler (1981, deutsch 2000) mit seinen „Stages of Faith“ und Fritz Oser und Paul Gmünder (1988) mit ihren Stufen der religiösen Urteilsfähigkeit des Menschen. Kohlberg, Fowler und Oser strebten dabei jeweils eine formal-universale Stufenfolge, jenseits des Pluralismus, an, blieben jedoch in mancher Hinsicht der abendländisch-christlichen Tradition verhaftet.
Fowler stellte 6 Stufen auf, vom kindlichen Urvertrauen zu einer zunehmenden Glaubenssouveränität, welche die Abhängigkeit vom Urteil und Verhalten anderer ebenso relativiert wie sie die angstbesetzte Fixierung auf die eigene konfessionelle Herkunft mildert. Die 5. Stufe dieser Entwicklung bringe, so Fowler, u.a. die Einsicht, dass jede Konfession partikular ist und der Ergänzung durch andere Perspektiven bedarf. Und die 6. Stufe erreicht eine „Einheit des Seins“, die auch (christlich) als „Reich Gottes“ bezeichnet wird (Fowler 2000, 223). Oser und Gmünder sehen ebenfalls einen Progress von einer Heteronomie gegenüber dem „Letztgültigen“ (Gott) zu einer Autonomie. Diese verdankt sich dem Einklang mit dem Absoluten, erreicht also eine zunehmende Überwindung der Furcht, dass das Absolute direkt und willkürlich in menschliches Leben eingreift, verbunden mit dem wachsenden Vertrauen, dass es auch bei schweren Belastungen trägt. Zugleich erreicht diese 5. und letzte Stufe von Oser/Gmünder eine „universale Solidarität mit allen Menschen“ – eine Qualität, die sich auch in buddhistischen Erleuchtungen zeigt, wie das 5. Kapitel dieses Bandes näher darlegen wird. Die Transzendenz wird dann erfahren als immanent, d.h. Gott als gegenwärtig in allem menschlichen Tun (auch Buddha ist in jedem und allem präsent).
Diese Konzepte setzen voraus, dass der Weltzusammenhang und Weltsinn auf jeder Entwicklungsstufe anders erfahren und gedeutet wird, die menschliche Biographie also aus einer „Abfolge sich wandelnder Sinnwelten“ besteht (Schweitzer 1992, 244-246). Während diese Sinnentwicklung bei Fowler und Oser theologisch und auch christlich orientiert ist, hat Ludwig Duncker (2000) eine stärker pädagogische Stufenfolge aufgestellt. Danach erscheint „sinnerschließendes Lernen“ 1. als zweckrationales Denken, welches plan- und berechenbar, ökonomisch, effizient und ohne Umwege mit gegebenen Ressourcen seine Ergebnisse erreicht; 2. als Reflexion darüber, d.h. in Sprache und Begrifflichkeit, welche diese Sinnzusammenhänge, also[18] auch die Welt, gleichsam „lesbar“ machen; 3. als ästhetischer Ausdruck solcher Sinnerfahrungen im Bild und in den Künsten; 4. auf einer Metaebene als Argumentation über Kategorien zur Beurteilung der Sinn-Problematik selbst und als Einsichten in Wertvorstellungen und Sinntiefe (auch Moralität) menschlichen Handelns (Duncker 2000, 186-189, 191-193).
Dazu ebenso wie zu den zuvor genannten Stufenfolgen fragt es sich, wie weit eine solche zunehmende Blickerweiterung, aber auch Abstraktion, eine Stärkung der Personen und ihrer Stabilität mit sich bringt. Und es fragt sich, wie weit die in den Sinnstufen gegenwärtige Bildungshierarchie sich mit einer gleichen Würde der einzelnen Stufen verbinden lässt: Jesus errichtete eine umgekehrte Hierarchie, wenn er seinen Jüngern – von den „Schriftgelehrten“ zu schweigen – die Kinder als Vorbild vorstellt (Matth. 5,3; Mark. 10,15; Luk. 18,17). Und unter den Erwachsenen wählte er die Fischer und Zöllner, eben nicht die „Schriftgelehrten“ aus: Er wusste offenbar, dass mit der Gelehrtheit nur zu leicht die existentielle Unmittelbarkeit verloren geht – wenn erstere nicht von Anfang an eine Flucht vor der letzten Betroffenheit war. Damit steht die Sinn-Entwicklung vor der Problematik, die Kleist in seinem „Marionettentheater“ ansprach: Wie lässt sich nach der Vertreibung des Menschen aus dem „Paradies“ der Unmittelbarkeit in die Bewusstheit und der Unmöglichkeit einer Rückkehr eine bewusste Unmittelbarkeit gewinnen? Solche Fragen stellen sich noch eindringlicher im Blick auf die Stufentheorie von Klaus Giel (2000) und werden im 5. Kapitel bei der Darstellung des Buddhismus wieder aufgenommen.
Giel unterscheidet 3 Stufen der „Erweiterung des Sinnhorizonts“. 1. Die sinnliche (er nennt sie auch „ästhetische“) Wahrnehmung der Welt ist von individuellen Voraussetzungen und situativen Bedingungen abhängig und daher für ihn zufällig, oberflächlich und partikular und liefert „Scheinsicherheiten“, z.B. in der Lebenswelt der Kinder (Giel 2000, 62 f., 78). 2. Mit der Versprachlichung, etwa in der Schule, werden empirische Befunde in theoretische Zusammenhänge gestellt und erst dadurch zu Wissen (a.a.O.85). Im Studium werden die Dinge aus dem „Strom der Zeit gelöst“ und gewinnen eine „ ‚Abgeschiedenheit‘ von der Lebenswelt“ (a.a.O.60). Die dabei benutzten Texte erschließen die Wirklichkeit jenseits der lebensweltlichen und lebensgeschichtlichen Zufälligkeit und setzen eine „sachliche […] Dignität und Verbindlichkeit der Erfahrung“ frei (a.a.O. 63), der „Vergänglichkeit enthoben“ (a.a.O. 62): „Die Schule kennt keine unvermittelte Gegenwart der Dinge und der anderen Menschen“ (a.a.O.78). 3. Die Wissenschaft repräsentiert für Giel die „prinzipiell ‚abwesende‘ […] Wirklichkeit“ (a.a.O.79), und zwar deshalb, weil sie Irrtümer und Unsicherheiten (Kontingenz) des unmittelbaren Lebens auf eine eindeutige Wirklichkeit reduziert (a.a.O. 85).
Giels Ansatz zwingt zur Entscheidung, was als „Wirklichkeit“ und als Sinnvertiefung zu verstehen ist. Wie Jesus die Sinn-Hierarchie umdrehte und bevorzugt den Kindern den Zugang zum „Reich Gottes“ zusprach, so dreht[19] die biblische Tradition, wie sie für mich heute etwa Martin Buber ansprach, die Gewichtung von Unmittelbarkeit und Wissenschaft um: Für Buber erschließt sich tieferer Sinn nicht durch Theorie, auch nicht durch platonische theoria, mit der Giel offenbar sympathisiert, sondern in der „Du“-Beziehung, d.h. in der existentiellen Begegnung, also der Einmaligkeit und Vergänglichkeit der Situation, welche für ihn nichts Zufälliges hat, sondern den Gehalt, den Sinn der göttlichen Offenbarung anbietet. Und Giels Schultheorie (siehe das obige Zitat) scheint zu übersehen, dass Schule, zumindest für die meisten Schüler, nur erträglich wird im Ausmaß von Erfahrungen mit „unvermittelte[r] Gegenwart der Dinge und anderen Menschen“, der Mitschüler und Lehrer und ihrer Zuwendung (vgl. Bohnsack 2013).
Wissenschaftliche Erkenntnisse vermögen Sinnbezüge aufzudecken, welche die alltägliche Wahrnehmung nicht erfasst. Und die Komplexität hochindustralisierter und computerisierter Gesellschaften erfordert differenziertere Erkenntnis- und Steuerungskompetenzen und entsprechende Sinnbindungen als die von Kindern und Jesu Fischern – für Buber Fähigkeiten der Problembewältigung in dem, was er „Es“-Welt nannte. Das weist auf deren höchst komplexe Sinnstrukturen. Aber die letzte Sinnorientierung – gleichsam das „Himmelreich“ – zeigt nicht auf die Wissenschaft, wie der 2. Teil dieses Kapitels verdeulichen wird.
Die uralten Fragen: Wozu leben wir? Was trägt uns – auch im Angesicht von Leiden, Schicksalsschlägen und Tod? – lassen sich kaum durch Reduktion auf Wissenschaft beantworten: Die „Einwurzelung“ (Simone Weil) muss schon tiefer gehen. Früher lieferte diese die Religion. „dein Glaube hat dir geholfen“, heißt es im Neuen Testament. Hubertus Mynarek (1983) hat Menschen nach ihrem letzten Ziel gefragt, das sie als „religiös ohne Gott“ verstanden. Sie