Der Sinn-Begriff ist also vielfach unterschiedlich gefasst worden. Man kann ihn eingrenzen auf Erkenntnis, etwa von bleibenden oder doch relativ stabilen Erfahrungs-Resultaten, Erfahrungs-Mustern und Gestalten („Gestalt- [20] psychologie“). Auch ein solches Wissen ist nicht wie ein Paket übertragbar, sondern wird im Lernprozess modifiziert und insofern selbst erzeugt. Das Ausmaß variiert dabei mit den jeweiligen Inhalten: historische Daten oder englische Vokabeln kann man mitteilen und relativ unverändert aufnehmen, das englisch Sprechen erfordert jedoch „Sprachgefühl“; letzte Sinn-Orientierungen, wie sie oben genannt wurden, lassen sich zwar verbal präsentieren, werden jedoch zu Sinn erst als Ergebnis eines längeren oder lebenslangen Erfahrungs- wenn nicht Leidens-Prozesses, oft ‚infiziert‘ durch den überzeugenden Einfluss als bedeutend erlebter Menschen, deren Seins-Vertrauen selbst im schulischen Unterricht „mitgelesen“ (von Hentig 1984, 117) wird. In dieser Hinsicht hat Sinn immer eine emotionale, eine existentielle Basis, welche sich der bloßen Machbarkeit durch andere wie durch sich selbst entzieht.
Zum gerade erwähnten Seins-Vertrauen bringt diese Arbeit ein eigenes, das 2. Kapitel. Im Vorgriff darauf sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass dieses Vertrauen jene Universalität anvisiert, die Fowler und Oser nicht recht gelang, und keine konfessionelle Bindungen eingeht, wenn es diese auch individuell keineswegs ausschließt. Es findet sich bei Kindern ebenso wie bei Jesu Fischern, transzendiert also die üblichen gesellschaftlichen und Bildungs-Hierarchien. Ohne das grundlegende Vertrauen, dass die Welt auf die Frage, ob unser Bemühen in ihr insgesamt auf Kooperationsbereitschaft trifft, eine positive Antwort gibt, ist sinnvolles Leben und Handeln angesichts ihrer Belastungen nicht möglich. Dann führen alle Anstrengungen zu planvollem Vorausdenken und Entscheiden am Ende in die Vergeblichkeit, Verkrampfung und das Scheitern, wie John Dewey dargelegt hat. Näheres dazu spricht das 2. Kapitel an.
1.1.3 Ausblick auf Sinn-Probleme der Jugend und der Schule
Seit den 1980er Jahren ist eine ganze Reihe von Untersuchungen zur Sinn-Problematik der Jugendlichen erschienen (z.B. Jörns/Großeholz 1998; Feige/Gennerich 2008). Das soll hier nicht referiert werden. Im vorliegenden Zusammenhang genügt ein Hinweis, dass die „postmaterialistische“ Orientierung an „Selbsterfüllung, Kreativität, Lebensgenuss und auch Hedonismus“ seit der Jahrhundertwende zugunsten stärker „materialistisch[er]“ Werte wie Sicherheit, Ordnung, Fleiß und Konzentration zurückgetreten ist, eine Entwicklung, welche u.a. aus der Gefährdung der wirtschaftlichen und beruflichen Zukunft erklärt wird (Shell 2010, 47). Die als „pragmatisch“ gekennzeichneten Jugendlichen zwischen 12 und 25 Jahren reagierten gleichsam anti-phobisch mit persönlichem Optimismus und gesellschaftlicher Skepsis, jedenfalls leistungs- und erfolgsorientiert.
50-60 % dieser Jugendlichen surfen im Internet, treffen sich mit „Leuten“, hören Musik und sehen fern (a.a.O. 96). Aber 70 % haben Angst vor [21]Armut, 62 % vor Arbeitslosigkeit, 61 % vor Terroranschlägen, 60 % vor Umweltverschmutzung, 57 % vor Klimawandel (a.a.O. 119). Wichtig ist ihnen zu 78 % gesund zu leben, zu 69 % der Lebensstandard, zu 59 % das Umweltbewusstsein, zu 58 % Benachteiligten zu helfen, zu 55 % eigene Bedürfnisse durchzusetzen, zu 54 % die Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen, zu 37 % an Gott zu glauben, zu 14 % das zu tun, was die anderen auch tun (a.a.O. 203). Sehr ausgeprägt ist die Hochschätzung von personalen Beziehungen und deren Sicherheit. 95 % stimmen dem Statement zu: „Im Leben braucht man Menschen um sich herum, denen man unbedingt vertrauen kann“ (a.a.O. 214). Bei Lebensproblemen werden „immer“ zu 31 % die Freunde, zu 19 % die Eltern herangezogen, „öfter“ zu 48 % bzw. 42 % (a.a.O. 228) Die Veränderungen gegenüber der Shell-Studie von 2002 sind gering, mit Ausnahme der rasanten Steigerung des Gebrauchs von Computern (von 26 % auf 59 %; Shell 2010, 96) und Smartphones.
Das alles schließt natürlich nicht aus, dass für etliche der Teddybär, die Hauskatze oder das Reitpferd zum Sinn-Geber werden; oder die Markenkleidung und das „toll Aussehen“; oder die Freude am Flirten und Shoppen; aber auch Aktivitäten in Vereinen oder kirchlichen Gruppen, der Einsatz für hilfsbedürftige alte Menschen, Behinderte oder für den Umwelt- und Tierschutz, die Menschenrechte oder die Dritte Welt. All diese Sinngebungen sind als reale Aspekte der jugendlichen Lebenswelt ernst zu nehmen: sie verhindern wenigstens vorübergehend die Sinn-Leere und Sinn-Losigkeit, auch wenn eine Neigung zum Ergreifen der nächstliegenden gegenwärtig absorbierenden „action“ vielfach als Flucht vor einer Sinnvertiefung verstanden werden kann. Nicht angesprochen werden in der gegenwärtigen Diskussion zur Sinn-Problematik gewichtige Hintergründe und Einflüsse, etwa auf Hoffnung und Ängste, welche aus frühkindlichen Lebenserfahrungen und Verletzungen resultieren, psychoanalytische Perspektiven und Zusammenhänge also. Auch das lässt sich als eine Flucht deuten. Das 7. Kapitel kommt darauf zurück.
Auch in der Schule werden solche Perspektiven selten aufgedeckt, psychoanalytische Hintergründe also eher weiter verdrängt. Die bewussten Erfahrungen von Sinn und Unsinn in der Schule vollziehen sich fast ausschließlich auf anderen Ebenen. Für viele Schüler ist schulisches Lehren und Lernen sinnvoll als Vorbereitung ihrer beruflichen Zukunft. Doch die ‚Passung‘ dieser schulischen Gegenwart auf die Zukunft wird immer problematischer. Die Anforderungen der Berufswelt werden spezialisierter und komplexer, eine schulische Vorbereitung trotz aller Exemplarität (vgl. Klafki: Exemplarisches Lernen) schwieriger. Zudem verliert das Motiv der Vorbereitung auf die Zukunft auch dadurch an Substanz, dass die einst sichere Relation von Abschluss und Anstellung sich auflöst, zugleich aber immer höhere Abschlüsse gefordert werden. Auch ökologisch (Umweltzerstörung) und politisch (zunehmende Bedrohung durch Krieg und Atombombe) geht[22] den Heranwachsenden, wie erwähnt, die Sinn-Gebung durch Zukunft verloren.
Angesichts eines derartigen Szenarios wirken manche schulischen Maßnahmen und wohlmeinende Reformen eher wie ein Stühlerücken an Deck beim Untergang der Titanic. An sich ist es durchaus sinnvoll, in Zeiten gesellschaftsweiter Individualisierung den traditionellen ‚Lerngleichschritt‘ weiter zu beschränken und individuelle Lernzugänge nicht nur zu ermöglichen, sondern grundsätzlich vorzubereiten und zu eröffnen; und dementsprechend Ergebnisse der Fachwissenschaften nicht zu verkünden, sondern mit Hilfe von Lebenserfahrungen und Interessen der Schüler handlungsbezogen zu entwickeln (z.B. durch „entdeckendes Lernen“). Dabei vermögen nicht nur ‚passende‘ Inhalte zu stimulieren, sondern auch die Beobachtung, wie sehr der Lehrer „durch seine Person überzeugt, daß dieser Gegenstand für einen heute lebenden Menschen – z.B. für ihn – wichtig ist und Folgen hat“ (von Hentig 1984, 112). Auf Seiten der Schüler heißt das, diese müssen Themen und Inhalte „mit konstruieren“ (Nipkow 2000, 24). Nur so wird der implizite Sinn erfahrbar und übernommen. Im Ausmaß, wie das geschieht, nimmt das Verhalten des Lehrers eher Merkmale des Begleitens als solche des Belehrens an. Soweit der Schüler vom Belehrungsobjekt zur Person wird, wandelt sich auch der Lehrer vom Funktionsträger zum „Menschen“, den manche Schüler statt des „Lehrers“ erwarten (vgl. Bohnsack 2013, 122). Aber: Schule ist Pflicht – wie weit führt Zwang zu Sinn?
Wilhelm Flitner versprach sich Bildung aus der Teilhabe an gemeinsamen „Lebensformen“ (vgl. dazu das 6. Kap.). Solche indirekten Vermittlungen von Sinn gelten auch im Pluralismus. Individualisierung bedeutet nicht notwendig Isolierung, sondern (etwa nach Martin Buber) Einmaligkeit und Verbundenheit. Schule vermittelt zwischen Familie und Gesellschaft, damit auch zwischen Personalität und apersonalen Strukturen in Wissenschaft, Technik, Wirtschaft etc. Ebenso wie diese läuft die Schule heute Gefahr, ihre menschliche Substanz zu verlieren. Im Bild: die Titanic geht unter. Person bedeutet nicht nur deren Einmaligkeit, sondern auch die der Situation: existentiell erlebt ist jede anders. Dieser Situativität zu entsprechen, auf sie ‚ant-worten‘ zu können, erfordert