Gregorsbriefe. Gregor Schorberger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gregor Schorberger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783957712844
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ihrer Frohnatur spornte sie mich an, beim Bischöflichen Generalvikariat Informationen über das BAG einzuholen. Sie hatte inzwischen das Abitur erfolgreich bestanden und ihr Studium an der Pädagogischen Hochschule begonnen. Obgleich Marlene 21jährig und zu dieser Zeit frisch in Karlheinz verliebt war, nahm sie sich Zeit, mit mir zu lernen. Ich war Marlene für ihre Hilfe sehr dankbar, jedoch auch krankhaft eifersüchtig auf ihren Freund Karlheinz. Heute, Papa, muss ich schmunzeln über die Weisheit, dass »Eifersucht eine Tugend ist, die mit Eifer Leiden sucht«. Ganz erleichtert war ich im Mai 1965 über die Zusage meiner optimistischen Schwester, mich zum Erstgespräch mit dem Schuldirektor des BAG, Dr. Heinrich Allekotte, zu begleiten.

      Mit dem 1. Oktober 1965 und meinem Antritt am BAG begann für mich ein ganz neuer Lebensabschnitt, der entscheidend meine begonnenen Lebensveränderungen, insbesondere die neu gewonnene ethisch-religiöse Einstellung, vertiefte.

      Mit Deiner stets aktuell gebliebenen Botschaft im Ohr »Niemals aufgeben!« verabschiede ich mich für heute

      von Dir mit einem herzlichen Gruß

      Gregor

      Brief über die Zeit als Abendgymnasiast

      Frankfurt am Main, 5. Dezember 2016

      Lieber Papa,

      gestern hat das neue Kirchenjahr begonnen. Für unsere kleine schwul-lesbische Gottesdienstgemeinschaft war der 1. Adventssonntag Anlass, auf das vergangene Jahr mit seinen großen Ereignissen zurückzuschauen – besonders auf unser 25jähriges Bestehen am Weißen Sonntag. Unter dem Thema: »Wandlungsgeschichten« feierten wir mit den Delegierten unserer verschwisterten lesbisch-schwulen Gottesdienstgemeinschaften von Basel bis Berlin (LSGG) ein ganzes Wochenende mit Studientag und Festgottesdienst.

      Adventssonntag – verbunden mit wehmütigen Erinnerungen an die glückliche Kindheit, als bei uns zu Hause auf dem Küchentisch der Adventskranz mit vier roten Kerzen stand. Durch das Anzünden einer weiteren Kerze wurde unsere kleine Küche auf Weihnachten hin jedes Mal heller. Jedoch verdüsterte sich meine Stimmung am 3. Adventsonntag 1967 wegen schlechter Noten am Bischöflichen Abendgymnasium. Mein Verbleib an der Abendschule war infrage gestellt. Ebenso wie ich warst Du, Papa, betrübt, von meinen großen Schwierigkeiten in der Schule zu hören. Als ich Dir sagte: »Mein Verbleib an der Schule sei mir wichtiger als das Abitur zu erreichen«, hast Du mir zwar freundlich geantwortet, aber für mich unverständlich, dass ich mit aller Gewalt das Abitur schaffen solle. Als zukünftiger Klosterbruder – vom Wunsch, Priester zu werden, hatte ich inzwischen wegen der privilegierten Stellung des Klerus in der Amtskirche Abstand genommen – brauchte ich keinen »höheren Dienstgrad«, da ich auch ohne Abitur in eine Ordensgemeinschaft aufgenommen worden wäre. Zur Post wollte ich nicht zurückgehen, nachdem ich mich ein Jahr zuvor, im September 1966, im Hauptpostamt Altenessen verabschiedet und eine Halbtagsstelle bei der Dresdener Bank angenommen hatte. Mir war die eigene Bildungserweiterung über das BAG zunehmend wichtiger geworden.

      Anders als in der Volks- und Berufsschule lernte ich am BAG nicht nur für die sympathischen Lehrer, sondern begann mich über meine bisherigen Lieblingsschriftsteller George Bernanos, Reinhold Schneider, Johannes XIII. hinaus mit weiteren bedeutungsvollen Autoren zu befassen. Du, Papa, erklärtest: »Deine Lernbegeisterung und Deinen Fleiß weiß ich trotz der schlechten Klassenarbeiten dennoch zu schätzen.« Diese Worte ermutigten mich, am BAG zu bleiben. Dein und Mamas nächtlicher Empfang nach meinem Schulbesuch mit leckerem Essen gegen 23.00 Uhr, wenn ich, gerade aus der Straßenbahn ausgestiegen, müde und niedergeschlagen in die Wohnung kam, trug entscheidend dazu bei, trotz schlechtester Noten nicht zu resignieren. Ihr gabt mir bei der Nachricht von einer missglückten Klassenarbeit niemals Schelte, sondern jederzeit Trost und Mitgefühl.

      Aufgrund meiner mangelhaften Durchschnittsnote Ende 1967 hatte das Lehrerkollegium des BAG nach Aussage meines Klassen- und Lateinlehrers Bernhard Tobias keine Hoffnung mehr, dass ich je das Abitur bestehen würde, wie er mir auf dem langen dunklen Schulkorridor mitteilte. Er hatte recht, denn vom Lateinunterricht habe ich nur das Zitat: »Non scholae, sed vitae discimus« behalten, also dass wir nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen, und die geflügelten Worte: »Veni, vidi, vici.« Aussagen, die mich zwar hoch motivierten, eifrig weiter zu lernen, jedoch nicht reichten, um das große Latinum zu erlangen. Ich bat meinen Lateinlehrer das Jahr wiederholen zu dürfen, da für mich nicht der Wunsch, das Abitur zu erlangen, wichtig sei, sondern als Bruder in eine Ordensgemeinschaft einzutreten. Die neue Klassengemeinschaft nahm mich wohlwollend auf. Dank dieser Hilfe und der unveränderten Unterstützung durch meine Schwester Marlene in Deutsch und Latein sowie der ihres Freundes Karlheinz in Mathematik wurde ich tatsächlich in den nächsten Zeugnissen in allen Fächern um eine Zensur besser. Darüber hinaus kam mir die Beendigung meiner Halbtagsstelle in der Dresdner Bank Ende 1967 zugute.

      Nach den Weihnachtsferien pilgerte ich im Januar 1968 nach Kevelaer zur Muttergottes. Dieser Pilgerort war mir aus Kindheitstagen gut vertraut. Im Glauben ahnte ich, wenn ich allein unterwegs war, dass von diesem Ort Kraftquellen ausgingen. Zuversichtlich bat ich dort Maria, noch eine Weile an dieser Abendschule bleiben zu dürfen. Diese kleine Weile ging tatsächlich noch über zweieinhalb Jahre, bis zum 9. Juni 1970, dem Tag, als der neue Schuldirektor Horst Graebe mir und dem Klassensprecher mitteilte, dass wir nicht mehr in das mündliche Abitur gehen mussten, da unsere Vorzensuren mit den Zensuren der schriftlichen Abiturarbeiten übereinstimmten. An den Abschlussfeierlichkeiten und der Zeugnisübergabe am 28. Juni 1970 nahm die ganze Familie einschließlich meiner Schwester Christiane, die extra aus Aachen angereist kam, teil.

      Einen echten Freund in Deiner Nähe, Papa, habe ich nicht gesehen. Du hast aber auch weder von einem befreundeten Kollegen in Deiner langen Ausbildungszeit bei der Polizei noch von einem guten Kameraden aus dem Krieg erzählt. Allein Deine vielen Fotos von der Polizei und vom Krieg, die Dich mit jungen Männern beim Baden, beim Sport, bei der Arbeit oder in Uniform zeigen, lassen vermuten, dass Du dem einen oder anderen Mann näher standst. Mir erging es lange ähnlich. Immerhin blieb Jesus in freudigen wie in schweren Tagen mein Begleiter. Dank seiner frohen Botschaft war er mir Tröster und Kraftquelle zugleich.

      So kannst Du, Papa, Dir vorstellen, dass ich überglücklich war, nach wenigen Tagen am Abendgymnasium im Oktober 1965 einen Freund gefunden zu haben. Fast noch ungläubig schrieb ich in mein Tagebuch: »Ich habe es kaum zu hoffen gewagt, dass ich mit Wolfgang, einem Klassenkameraden, in meiner neuen Schule eine Freundschaft begonnen habe.« Wolfgang blieb mir über die gesamte Schulzeit bis zu meinem Weggang ins Ausland in Freundschaft verbunden. Seine angenehme Nähe beim gemeinsamen Lernen und Diskutieren half mir, die permanenten Anstrengungen der Abendschule zu überstehen.

      Besonders die gemeinsamen Fahrradtouren an Wochenenden und in den Ferien waren für Wolfgang und mich der gelungene Ausgleich zum ständigen Lernen. Bestens hattest Du, Papa, mein Fahrrad präpariert, und so fuhr ich an diesem Pfingstmontag voll Freude, Glück und Zufriedenheit mit Wolfgang los und prallte keine drei Schritte von zu Hause entfernt gegen ein stehendes Auto. Der Fahrer stellte sofort fest, dass an seinem Auto kein Schaden entstanden war. Doch mein Fahrrad war so verbogen, dass es nicht mehr fuhr. Du, Papa, kamst sofort angelaufen und hörtest nicht mehr auf, zu schimpfen und zu schreien. Du hättest mir alles schon vorausgesagt, nur ich, ich habe ja nicht hören wollen. Vor Wolfgang schämte ich mich am meisten, denn durch meine Schuld stand die ganze vorbereitete Fahrradtour auf dem Spiel. Zu guter Letzt durfte ich dann Marlenes Fahrrad nehmen. Natürlich habe ich Dir, Papa, nicht erzählt, dass ich schon einige Kilometer weiter, in Bottrop-Mitte, gegen einen Eisenpfahl gefahren bin. In meinem Tagebuch steht dazu: »Wolfgang hatte wieder einen ordentlichen Schrecken bekommen. Gleich half er mir, obwohl ich schon aufgestanden war, mit einigen seiner passenden tröstenden Worte. Mit schiefem Lenker, Knie- und Hinterteilschmerzen und einer Handabschürfung fuhr ich mit lachendem Gesicht über meine eigene Dummheit weiter, als wenn was anderes nicht infrage kommen konnte.« Heute ist mir sonnenklar, dass nach Schul- und Arbeitsstress in meiner großen Vorfreude auf diese Fahrradtour meine übergroße Gefühlsanspannung ein Ventil in den beiden kleinen Unfällen gefunden hatte.

      Erfreulicherweise konnten wir letztlich am sonnendurchfluteten Niederrheinufer den Ausflug genießen. Auf der Rückfahrt über Ossenberg stellte uns die gastfreundliche Tante Käthe ihr Ehebett zum Übernachten zu Verfügung. Das