Gregorsbriefe. Gregor Schorberger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gregor Schorberger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783957712844
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und mir eine heftige Diskussion über Sinn und Zweck dieser Filme. Sie waren gegen mich, weil ich mich für diese Filme ausgesprochen habe. Ich sagte Mama, dass es sehr wichtig sei, solche Themen öffentlich zu machen, weil der Film den ermordeten Menschen damals und den heutigen geistig und körperlich Behinderten im Nachhinein eine Würde gibt. Nur so können tiefsitzende diskriminierende Vorurteile in der deutschen Bevölkerung angegangen werden.« Als Briefträger des Essener Nordens habe ich oft genug erlebt, wie Eltern ihre körperlichen und geistig behinderten Kinder in den Wohnungen versteckten, wissend, dass die auch in den Kirchen nicht erwünscht waren, da sie sabbern oder Laute von sich geben konnten. Mir griffen diese Kinder besonders in den Obdachlosensiedlungen ans Herz. Zu Weihnachten brachte ich einigen von ihnen Spielzeug und den Eltern Kaffee und Süßigkeiten, wenn der Vater arbeitslos und in vielen Fällen gleichzeitig Alkoholiker war. Bei der Zustellung hatte ich ihr Vertrauen gewonnen und fühlte mich nach diesen Weihnachtsaktionen als der durch diese Erlebnisse besonders Beschenkte. Ist es doch viel leichter zu geben, als nehmen zu müssen.

      Permanent warst Du, Papa, über mein widerspruchsvolles Verhalten als Jugendlicher enttäuscht. Heute würde ich sagen, dass ich überhaupt nicht Deinem national-deutschen, preußischen Sittenbild entsprach: stark, sportlich, tapfer, pflichtbewusst, diszipliniert, wachsam, gefügig und gehorsam gegenüber der Obrigkeit. Ja, Papa, trotz meiner Uniform als Briefträger bin ich nicht zu dem geworden, wie Du mich haben wolltest. In Deinen Augen war ich eben kein dem traditionellen Familienbild entsprechender Mann. Natürlich hätte ich nie gewagt – hier wirkten sowohl mein Unterbewusstsein als auch unausgesprochen die kirchlichen Verurteilungen homosexueller Männer in mir –, Dir zu sagen, dass ich mich erotisch zu Männern hingezogen fühlte. Nur mein Körper reagierte immer stark bei homoerotischen Begegnungen, wie in der Straßenbahn, als ich nach meiner Briefzustellung diesen überaus schönen, schwarzgelockten Jungen mit großen blauen Augen ansah. Er kam aus dem Leibniz-Gymnasium, das neben dem Postamt lag, und benutzte am frühen Nachmittag die gleiche Straßenbahn, um wie ich nach Hause zu fahren. Seine anmutige, auf mich ansprechend wirkende Gestalt und sein gewinnendes Lächeln zogen mich wie ein Magnet an. Ich spürte sofort Schmetterlingsgefühle im Bauch, wenn ich ihn an der Haltestelle oder im Straßenbahnwagen antraf. Nach wochenlanger Stummheit und erregtem Herzklopfen kam es dann zu einem ersten Gruß, an späteren Tagen zu kurzen Gesprächen über seine Lieblingsfächer Kunst und Geschichte. Ich erzählte ihm stolz von meinen Schwestern, die diese gleichen Fächer an der Realschule hatten und deren Inhalte sie mit mir teilten. Ich war beglückt und erleichtert über diese sympathischen, erotisierenden, mehr und mehr unverkrampften Begegnungen. Nach einigen Monaten verloren wir uns sprichwörtlich aus den Augen.

      Unsere Familie stand Dir, Papa, über allem. Keinen anderen Mann habe ich je kennengelernt, der so stark das Familienidyll predigte und versuchte zu gestalten wie Du. Nicht als Ehemann habe ich Dich erlebt, sondern als einen Mann, der seine Frau als Mutter seiner Kinder ansah und uns Kinder über alles liebte. Weder Freunde, Stammtisch, Kulturveranstaltungen noch Vereine kamen für Dich infrage. Kein Wunder, dass ich in der Kinder- und Jugendzeit keinen festen Freund finden konnte. Nach Deinem täglichen Polizeidienst galt Dir nur das Familienleben mit Tieren und Garten als Lebenselixier. Dein gesamtes Gehalt gabst Du selbstverständlich und stolz monatlich an Mama ab. Am Zahltag hattest Du meistens gute Laune, und hocherfreut über Deinen Monatsverdienst brachtest Du frische Brötchen mit nach Hause. Angesichts dieses äußerlich harmonischen Familienlebens frage ich mich, warum ich mich als Kind und als Jugendlicher von Euch Eltern abgewandt und zunehmend intensiver geistlichen Bezugspersonen wie Jesus, Maria und einigen Heiligen, insbesondere der kleinen Theresia von Lisieux, zugewandt habe?

      Wegen meines permanenten Widerspruchs Dir gegenüber sagte Marlene mit blitzendem Blick zu mir: »Du musst immer alles besser wissen und hältst Moralpredigten. Renne nicht dauernd zur Beichte, sondern verhalte Dich mal anders zu Papa!« Meine wöchentlichen Besuche der Salve-, Rosenkranz- oder Marienandacht waren für mich nichts anderes als wunderbare meditative Stunden zum Abschalten von anerzogenen moralischen Skrupeln, vom Alltagsstress, vom Ärger über Vorgesetzte bei der Post, von nerviger Familie und letztlich auch von meinen vielfältigen Krankheitssymptomen. Manchmal begleitete Mama mich zur Salve-Andacht. Da sie mit Dir, Papa, weder zu geselligen Veranstaltungen noch ins Theater oder in Konzerte ging, konnte sie wenigstens in der Kirche vom häuslichen Stress abschalten.

      Besonders nach Christianes plötzlichem Verlobungsende mit Xaver litt die ganze Familie mit ihr. Xaver, der schlaksige, Elvis ähnelnde Automechaniker, war uns allen sehr sympathisch gewesen. Ich genoss es, wenn er mich zärtlich wegen meines schmalen Aussehens »Röhrchen« nannte und mich dabei minutenlang streichelte. In ihrer tiefen Trauer über das Ende dieser großen Liebe flüchtete sich Christiane in Alkohol und nahm permanent Kopfschmerztabletten. Nicht nur einmal waren durch ihre Abhängigkeit und ihr damit verbundenes Erbrechen unsere Weihnachtsfeste betrübt. Ihr größter Albtraum war, keinen Mann mehr zu bekommen und als jungfräulich Sitzengebliebene von Familienangehörigen, Kolleginnen und Nachbarn verachtet zu werden. Papa, in was für einer Gesellschaft der 1960er Jahre lebten wir, in der nicht nur schwule Männer tabuisiert und verachtet wurden, sondern generell auch ledig gebliebene Frauen und Männer? Anderthalb Jahre nach der Trennung von Xaver lernte Christiane Werner kennen.

      Ja, Papa, trotz der Liebe zu Dir und Mama hatte ich mich Euch mit meinen Problemen als pubertierender Junge nicht anvertraut. Als gefühlter Außenseiter hatte ich noch im August 1963 nach meinem langen Krankenhausaufenthalt begonnen, fast täglich Tagebuch zu führen. Im Hinblick auf das gerade erworbene Buch »Zwischen 15 und der Liebe« sagte ich mir damals, was Danny, die sympathische Hauptfigur, kann, kannst Du auch, eben Tagebuch schreiben. Mit Begeisterung habe ich diesen Roman von Michel Quoist gelesen, jedoch nur heimlich, da die sexuelle Thematik in unserer Familie tabu war. Obgleich von einem katholischen Priester geschrieben, hatte ich dennoch Angst, dass Du, Papa, oder Mama das Buch finden könntet. Ich sehe Dich noch vor mir, wie Du über das Verhalten unserer Cousine Maria geschimpft und sie als unanständig bezeichnet hast, weil sie auf dem Schoß ihres Freundes saß.

      Über die Schriften von Michel Quoist lernte ich die französische spirituelle Literatur und eine befreite, basiskirchliche, linke Religiosität kennen, die mir, dem Außenseiter, vom Herzen her entsprach. Zu Deinem Leidwesen, Papa – Du warst nämlich ein begeisterter CDU-Anhänger – begann in dieser Zeit in mir auch ein Quantensprung von anerzogener traditioneller Lebenseinstellung zu progressiver Gesellschaftseinstellung. Mir gelang es, von einer prüden, moralischen, CDU-gefärbten Familientradition weg- und hin zu einer toleranten, weltoffenen und differenzierten Haltung gegenüber Kirche und Gesellschaft zu kommen. Ich begann, mich allen Menschen gegenüber zu öffnen, egal welche sexuelle Identität, Lebensform, Hautfarbe, Weltanschauung und Religiosität sie hatten, da für mich jede Person die gleiche Würde hat.

      Obwohl gut versteckt und voller Angst, dass ein Familienmitglied jemals mein Tagebuch finden könnte, erzählte ich Dir dennoch von meinem ständigen Schreiben. Stammt doch von Dir der Ausdruck: »Wer schreibt, der bleibt.« Von der Elektrogroßhandlung Robert Merkelbach KG in Essen brachtest Du mir jährlich wunderbare Jahreskalender mit, die ich mit Begeisterung vollschrieb. Körperliche, homoerotische, seelische, soziale, familiäre, berufliche, gesellschaftliche, kirchliche und vor allem spirituelle Ereignisse und Erfahrungen »schrieb ich mir von der Leber weg« – auch so ein Ausdruck von Dir. Mein Tagebuch, dem ich alles anvertrauen konnte, wurde mir zum wertvollen Lebensbegleiter. Als ich im Oktober 1965 aufhören wollte, es zu führen, da ich wegen des Besuchs des Abendgymnasiums keine Zeit mehr dazu hatte, stellte ich fest: »Muss ich doch einfach wieder schreiben, habe einen starken Drang danach, das Schöne, das ich erleben durfte, in meinem Tagebuch aufzuzeichnen.«

      Priester zu werden war ein weiteres, stets wiederkehrendes Thema darin. Ich stellte mir ständig die Frage, ob ich überhaupt wegen meiner Lernschwäche als Legastheniker und mit einem unzureichenden Volksschulabschluss zu diesem Dienst taugte. Dennoch hatte ich den tiefen Glauben in mir, Wege zu finden, meinem Freund Jesus nachzufolgen. Über meine Briefzustellung im Altenessener Norden lernte ich in der Pfarrei St. Ewaldi Pater Augustinus kennen. Bei meiner täglichen Postabgabe dort lud er mich zu einer kleinen Kaffeepause ein, die ich jedes Mal gerne annahm. Bei einem unserer Gespräche im September 1964 fragte ich Pater Augustinus, ob ich nach meiner Postlehre Priester werden könnte, obgleich ich als Abschluss nur die Volksschule hätte. Er machte mir Mut, zum