Gregorsbriefe. Gregor Schorberger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gregor Schorberger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783957712844
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Trotz heftigen Heimwehs an diesen Orten überwog in mir die Freude am Reisen. Dankbar bin ich daher Mama, die mit uns Kindern in den 1950er und 1960er Jahren viele solcher Reisen unternahm.

      In Erinnerung an Deine vielen ermutigenden Briefe an mich aus der Ferne verabschiede ich mich für heute, an meinem 69. Geburtstag, an dem Dir und Mama ja auch ein Glückwunsch gebührt, wie es mein Kölner Freund Stefan Bey stets betont.

      Liebe Grüße,

      Gregor

      Brief über die Schulzeit

      Frankfurt am Main, 2. Oktober 2016

      Lieber Papa,

      gerade kommen Burkhard und ich vom Abendgottesdienst aus der Kirche Maria Hilf in unsere Wohnung zurück. Heute am Erntedanksonntag war sie besonders festlich mit Sonnenblumen, Dahlien, Glockenblumen und Beerensträuchern geschmückt. In Erinnerung an die vielen mit Kartoffeln, Bohnen, Karotten, Gurken und Kürbissen gefüllten Körbe vor dem Altar erzählte ich Burkhard von Deiner reichlichen Ernte im Herbst. Auf voll bepackten Handkarren brachtest Du freudestrahlend aus dem Schrebergarten vielerlei Früchte mit nach Hause. Dadurch muss ich an unsere winterlichen Karnaper Gärten denken und an die Schlüsselgeschichte. War es nicht an einem Oktoberabend, Papa, als Du völlig erschreckt feststelltest, dass einer unserer beiden Schlüsselbunde fehlte? Du verdächtigtest sofort uns Kinder, den Schlüssel verloren zu haben. Als ängstlicher Mann und noch dazu als Polizist stelltest Du Dir lautstark in unserem Beisein vor, wie leicht nun ein fremder Mann jederzeit bei uns einbrechen könne. So lebte jeder von uns wochenlang mit schlechtem Gewissen, den Schlüssel vielleicht wirklich verloren zu haben. Wegen Deiner Horrorvision ängstigte ich mich um unsere kleine, mir so vertraut gewordene Mietwohnung, die nun für jeden Dieb weit offenstünde. War es dann Januar oder Februar, als Du eines Tages mit verlegenem Gesicht und schlechtem Gewissen aus dem Schrebergarten nach Hause kamst? Reumütig sagtest Du uns, dass Du unseren zweiten Schlüsselbund wiedergefunden hattest. Er hing, wo Du ihn im Herbst hinterlassen hattest, an einem kahlen Ast des inzwischen blätterlos gewordenen Apfelbaumes. Es spricht für Dich, dass Du Dich bei uns Kindern entschuldigen konntest und trotz all Deiner cholerischen Anwandlungen nie nachtragend warst.

      Deine cholerischen Anwandlungen konnte ich schnell wieder vergessen. Ich war auf Deine Anfrage, Dir bei einer Hausarbeit zu helfen, sofort dazu bereit, wohlwissend, dass ich es Dir, egal bei welcher Tätigkeit, nie recht machen konnte. Manchmal hast Du mich mit den Worten: »Du bist sowieso zu schwach auf der Brust!« entschuldigt. Säge ich heute ein kleines Brett, nicht selten schief, habe ich sofort Deine Stimme im Ohr: »Noch nicht mal die Säge kannst Du richtig halten!« Damals jedoch musstest Du mit mir Vorlieb nehmen, da sonst keiner im Karnaper Hause da war, den Du zur Mithilfe in den Hof hinunter hättest rufen können. Du hattest mal wieder viele schwere Eisenbahnschwellen aus Eichenholz kostenlos von der Zeche geliefert bekommen. Unser ganzer Hof roch durch die Gase der Schwellen nach Teer und Schwefel. Die schweren Schwellen hobst Du mit all Deiner erstaunlichen Körperkraft allein auf einen Holzbock. Ich brauchte nur die große Baumsäge am einen Ende zu halten, während Du sie mit aller Wucht hin und her zogst. Lauter dicke Holzscheiben entstanden so, die Du dann stundenlang mit der Axt zu Kleinholz verarbeitet hast. Ich schaute Dir bewundernd zu und blieb, Deiner Behauptung entsprechend, gerne schwach auf der Brust.

      In meinen ersten Lebensjahren hatten wir zu Hause stets freundliche, kinderliebende Schweine, und schon als kleiner Junge konnte ich nicht ertragen zu hören, wenn der Schlachter kam und die Tiere, ihren bevorstehenden Tod ahnend, laut schrien. Ich versteckte mich im hintersten Zimmer der Wohnung und hielt mir die Ohren zu. Über die eingemachte »Fleischernte«, von der die Verwandten gläserweise beschenkt wurden, konnte ich mich mit Euch nicht freuen. Wie gingst Du, Papa, mit diesen zwei sich widersprechenden Haltungen in Dir um? Einmal die Tiere als Nutzvieh für unsere Ernährung zu betrachten und ein andermal als liebenswerte Lebewesen?

      Dank Deiner Garten- und Tierpflege waren wir von Anfang an eine Selbstversorgerfamilie. Aus Sparsamkeitsgründen kauftest Du selten Futter für die Tiere. Mit der Straßenbahn schlepptest Du nach Deinem Polizeidienst in großen Eimern Essensreste aus dem Hotel »Handelshof« nach Hause. Deine Sparsamkeit selbst gegenüber den Tieren kannte allerdings ihre Grenze, wenn Du einen Sack Kleie oder Weizenkörner benötigt hast. Dann hast Du ihn gekauft oder noch lieber ihn Dir von uns zu Deinem Namenstag, Geburtstag oder sogar zu Weihnachten schenken lassen. Ich sehe noch Dein erfreutes Gesicht vor mir, wie Du, statt auf die Festtafel zu schauen, Deinen frohen Blick zuerst auf den Getreidesack unter Deinem Gabentisch richtetest. Dank der vielseitigen Ernährung blieben Deine Tiere gesund und gediehen prächtig. Deine Zuchterfolge mussten sich wohl herumgesprochen haben, denn an einem Freitag im Januar 1959 kam sogar ein Journalist von der Neuen Ruhr Zeitung, um Dich zu interviewen. Der fast ganzseitige Artikel mit einem sympathischen Foto von Dir hatte die Überschrift: Karnaper Polizeibeamter hütet am Abend den eigenen Kleintierzoo. Ein Züchter unter Tausenden mit seinen Sorgen und Freuden bei den Tieren.

      In den acht Jahren Volksschule hatte ich weder ein Lieblingsfach noch lernte ich gerne. Eine helle Stimme dagegen, die fast atemlos immer wieder in den Pausen »Samuel« rief, faszinierte mich. Es war Joshua, einer der beiden Söhne des Lehrers Rosenberger. Den Anblick ihrer markanten Gesichtszüge, der dunkelblauen Augen, schwarzgelockten Haare und sportlichen Figuren genoss ich zwar damals sehr, wagte aber nicht, mit ihnen in Kontakt zu treten, da etwas Unausgesprochenes, Verbotenes zwischen uns stand. Meine Mitschüler trugen keine klassisch deutschen Namen und kamen, ganz im Sinne der Lehre von der »alleinseligmachenden Kirche«, nicht wie wir Katholiken in den Himmel. Ein volkstümliches Kirchenverständnis, das ich schon damals nicht glauben wollte. Erst später ist mir klar geworden, dass die attraktiv aussehenden Brüder auf mich, den blonden, Scheitelfrisur tragenden Jungen, erotisch wirkten. Wie ein inneres Selbstverbot hätte ich nicht gewagt, zu Hause über meine faszinierende Entdeckung der hellen Stimmen von Joshua und Samuel samt ihrem bildschönen Aussehen zu sprechen. Warum eigentlich nicht, Papa? Noch heute bin ich von orientalisch aussehenden, schwarzhaarigen Personen erotisierter als von blonden Männern. Nicht Skandinavien, sondern der Vordere Orient und Nordafrika wurden später meine bevorzugten Reiseziele.

      Beim ersten Klassentreffen 1993, dreißig Jahre nach der Volkschulentlassung, trafen wir ehemaligen Schüler uns in der Gaststätte »Alt-Carnap«. Selbst mein inzwischen silberergrauter, hochbetagter Klassenlehrer Heinrich Schüssler freute sich an diesem Abend, von unseren Schulerlebnissen zu hören. Längst vergessene Abenteuer wie pubertäre Spiele unter der Dusche nach dem Turnen bekamen einen neuen Klang. Vor allem die Theaterstücke, die Fräulein Maria Storm mit uns einstudierte, waren lebhaftes Thema des Abends. Jeder/Jede wusste noch genau seine/ihre Rolle wieder aufleben zu lassen. Das Theaterspielen in der Volksschulzeit hat mir Spaß gemacht. Mit Vergnügen durfte ich in verschiedene Rollen schlüpfen, einmal als verzauberter »Zwerg Nase« im Märchen, dann als Maria beschützender Josef in einem Krippenspiel und schließlich als talentierter Chefkoch in »Dornröschen«. Ja, es bedurfte dieses Klassentreffens, um mir wieder einmal der vielen Facetten dieser Schulzeit bewusst zu werden.

      In wie vielen Rollen warst Du, Papa, in Deiner Zeit als Schüler? Von Onkel Paul erfuhr ich, dass Du schon als Kind ein hervorragender Taubenzüchter warst und Deine ganze Freizeit darauf verwendet hast. Kein Wunder, dass Du wie ich nur ein durchschnittlicher Schüler gewesen bist. Umso mehr freutest Du Dich mit mir, dass ich wenigstens im Fach Kunst gute Noten nach Hause brachte. Fräulein Storm war für mich eine sehr moderne, attraktive Lehrerin, die in München Kunst studiert hatte. Sie erzählte uns später von ihren Kommiliton*innen Sophie und Hans Scholl von der Widerstandgruppe »Weiße Rose«, mit denen sie gerne im Café zusammengesessen und deren Widerstand gegen Nazi-Deutschland sie mit unterstützt hatte. Heute frage ich mich, ob nicht schon da die Wurzeln meines späteren Widerstandes gegen faschistoide Tendenzen in unserer bundesrepublikanischen Gesellschaft gelegt wurden.

      Von Heimatkunde, Rechnen, Schönschreiben und Turnen im Unterricht wusste ich Dir nie etwas zu erzählen, weil ich an all diesen Fächern kein Interesse hatte. Bestimmt, Papa, warst Du damals sehr stolz auf Deine begabten Töchter Marlene und Christiane. Sie wechselten im Gegensatz zu mir nach der vierten Klasse der Volksschule auf die Realschule nach Essen-Altenessen. Brachten wir gute Schulnoten nach Hause, durften wir zur Belohnung ab und an ins Karnaper Kino. Unverändert gerne gehe ich