Sechzehntes Kapitel: Li
„Evangelia!“
Sie hörte den Ruf aus dem Nachbarraum kaum, während sie dem Fremden aus Saxland, diesem Ritter ihrer einsamen Träume nachsah, ehe er sich zwischen den Passanten verlor, die diese Gasse als Abkürzung zwischen dem Hippodrom und dem Konstantin-Forum benutzten, wozu auch viele Fuhrleute gehörten, die ihre von Hand, Esel oder Pferd gezogenen Karren und Wagen durch diesen viel zu engen Weg entlang führten und damit stets für ein übermäßiges Gedränge sorgten. Ein Gedränge, das aber andererseits immer wieder dazu führte, dass vermögende Rhomäer, die bei einem der Pferderennen im Hippodrom zuschauten und sich vielleicht sogar an den eigentlich verbotenen Wetten beteiligen wollten, auf Lis Papiermacherwerkstatt aufmerksam wurden und sogar zu ihren Kunden wurden. Papiere zu unterschiedlichsten Zwecken wurden dann bei ihr gekauft. Manch einer wollte nur einen Bogen für einen gefühlvollen Brief mit schönem Wasserzeichen, der sich gut falten und versiegeln ließ, andere waren Betreiber einer Buchbinderwerkstatt, die es mal mit ihrem Material versuchen wollten oder Kaufleute, die besonders lange Bögen zur Erstellung verschiedener Warenlisten haben wollten. Da Li ihre Arbeit ohnehin kaum schaffen konnte, verzichtete sie vollkommen darauf, auf ihr Gewerbe aufmerksam zu machen, denn das hätte nur dazu geführt, noch mehr Aufträge ablehnen und Kunden verärgern zu müssen. Die einflussreiche Gilde der Gerber, die das Papier als Konkurrenz zum Pergament ansah und am liebsten auch die Papiereinfuhr mit arabischen Schiffen verboten hätte, hatte es durchgesetzt, dass Li keine Lehrlinge und Gesellen ausbilden durfte. Allerlei fadenscheinige Argumente hatten dafür herhalten müssen, ihr dies zu untersagen. Zuerst hatte man behauptet, sie sei keine Christin und es hatte erst der Priester vor dem Gildengericht aussagen müssen, um zu bestätigen, dass sie tatsächlich unter der großen Kuppel der Hagia Sophia getauft worden war, in der sich Sonntag für Sonntag die Rhomäer zum Gottesdienst versammelten. Zeugen aufzubieten, die bei dieser Taufe anwesend gewesen waren und sich daran erinnerten, hatte keine große Schwierigkeit bedeutet. Ein weiteres Argument war gewesen, dass sie eine Frau war. Ragnar der Weitgereiste, ihr einflussreicher Förderer, hatte ihr daraufhin den Hinweis gegeben, dass sich schließlich auch die Huren von Konstantinopel in Gilden organisierten, deren Mitglieder in aller Selbstverständlichkeit auch den Nachwuchs ihrer Profession ausbildeten, obwohl es aus sich unzweifelhaft um Frauen handelte, wie er aus eigener Anschauung bezeugen könnte.
Doch auch dieses Argument hatte das Gildengericht nicht gelten lassen. Welche Kräfte da genau bestrebt waren, sie klein zu halten, war wohl nicht bis ins letzte zu ermitteln. Aber Ragnar hatte ihr dann den Rat gegeben, die Sache nicht bis vor ein höheres Gericht zu verfolgen und durchzufechten. „Eines Tages werden die Logotheten und Schreiber des Kaisers so sehr auf dein Papier angewiesen sein, dass sie selbst für dich die Trommel rühren werden, um Lehrlinge anzuwerben!“, war er überzeugt. „Da brauchst du nur etwas Geduld. Und ich glaube daran, denn andernfalls hätte ich dir nicht für eine relativ geringe Beteiligung an deinem Gewinn mein altes Lagerhaus als Werkstatt überlassen!“
„Wofür ich Euch ewig dankbar sein werde, Ragnar.“
„Ich brauche Eure Dankbarkeit nicht, sondern bevorzuge Euer Silber. Und solange das fließt, werden wir voneinander profitieren, Evangelia.“
Evangelia - so nannte sie sich nun. Ragnar hatte ihr geraten, sich einen einheimischen, gut aussprechbaren Namen zu wählen. „Es reicht schon, dass deine Augen fremdartig erscheinen“, hatte Ragnar dazu bemerkt, „da braucht es nicht auch noch einen Namen, der so kurz und flüchtig ist, dass selbst ein Hund nicht darauf hören könnte, weil er schon verklungen ist, bevor er ins Ohr gelangt ist!“
Und so war ihre Wahl auf Evangelia gefallen, was 'Gute Nachricht' bedeutete und damit in gewisser Weise eine Art Auflehnung gegen ihr bisheriges, von schlechten Nachrichten allzu sehr geprägtes Schicksal darstellte. Evangelia – das enthielt nicht nur die einzige Silbe ihres Han-Namens, den sie sich in ihrem Herzen immer bewahren würde, schon um das Andenken an ihren Vater nicht verblassen zu lassen, sondern erinnerte auch an die vier Evangelien der Heiligen Schrift, die vom Leben und Wirken Jesu Christi berichteten und aus denen der Priester in der Kirche vorzulesen pflegte. Und in den christlichen Ländern war diese Schrift ein Synonym für das Buch an sich und stand schon damit in enger Beziehung zu ihrer Handwerkskunst der Papierherstellung.
Unzählige Szenen aus diesen Evangelien konnte man in den Kirchen der Stadt oder in privaten Schreinen ihrer Einwohner auf Bildern sehen. Ikonen, wie die Christen von Konstantinopel dazu sagten. Während der Islam in der bildliche Darstellung des Menschen sehr zurückhaltend war und sie weitestgehend mied, schien man im größten Reich der Christenheit genau den gegenteiligen Maximen zu folgen. Manche Bilder erfuhren selbst bereits eine Verehrung, die einem Muslim wahrscheinlich als Götzendienerei vorgekommen wäre und Li manchmal an die Ahnenschreine erinnerte, wie sie in ihrer Heimat verwendet wurden.
Aber obwohl Li den Eindruck hatte, dass die Möglichkeit, Geschichten auch in Bildern darzustellen, mehr Menschen dazu verleitete, darauf zu verzichten, das Lesen oder gar das Schreiben zu erlernen, da man alles Wesentliche der Heiligen Schrift ja auch aus Ikonen erfahren konnte, so profitierte ihr eigenes Gewerbe doch genauso von dem ausgeprägten Hang zur Malerei. Papier taugte natürlich nur in den seltensten Fällen als Grundlage solcher Bildwerke. Dazu war es dann dich nicht haltbar genug und außerdem hafteten die Farben ihm nicht in gleicher Weise an, wie es bei Leinwänden, Holz oder Stein der Fall war.
Aber bevor die Ikonenmaler zu Werke gingen, fertigten sie oft unzählige Skizzen an. Und für diese Skizzen brauchten sie ein Material, auf das sich mit Kohle gut zeichnen ließ und das darüber hinaus verhältnismäßig preiswert herzustellen war. Und so gehörten inzwischen auch solche Malerwerkstätten zu ihren Kunden.
„Evangelia!“, riss sie jetzt endlich ein weiterer, durchdringender Ruf aus ihren Gedanken. Jetzt endlich ging ein Ruck durch ihren Körper. Sie ging nach nebenan. Der Mann, der sie gerufen hatte, hieß Christos und gehörte zu den Tagelöhnern, die sich bei ihr verdingten. Er war von Geburt an blind. Der Blick seiner Auge war leer. Auf Grund einer Blindheit war es immer schon schwierig gewesen, irgendwo Arbeit zu finden. Zumeist hatte er sich als Bettler vor der dem Portal der Hagia Sophia durchgeschlagen und für eine gewisse Zeit war er sogar am Eingang des Hippodroms damit beschäftigt gewesen, gegen Gebühr Sitzkissen auszuleihen. Mit seinen feinen, empfindsamen Fingerspitzen konnte er nämlich jede Münze sicher erkennen und es war in dieser Hinsicht gewiss leichter, so manchen unkundigen Sehenden zu betrügen als ihn. Aber die Verwaltung des Hippodroms war anderer Ansicht gewesen. Man hatte ihn schließlich fortgeschickt, weil der zuständige Hofbeamte, dem die Pferderennbahn und deren Bewirtschaftung neu betraut worden war, nicht glauben wollte, dass ein Mann wie Christos zu so einer Arbeit auf Dauer fähig war. Christos hingegen hatte Li gegenüber immer den Verdacht geäußert, dass der betreffende Hofbeamte solche Posten nach Möglichkeit einfach nur bevorzugt mit Verwandten besetzen wollte.
Li hingegen hielt große Stücke auf ihn. Und obwohl sie ihn nicht offiziell als Lehrling hätte annehmen und ausbilden dürfen, hatte sie ihm doch das eine oder andere von ihrer Kunst gezeigt, wobei er sich als sehr geschickt erwiesen hatte.
„Was ist los, Christos? Warum rufst du mich, als wäre unsere Wasserzuleitung versiegt?“
Er stand zusammen mit mehreren Tagelöhnern an einem großen Bottich. Alle Anwesende hielten hölzerne Stampfer in den Händen. Christos griff jetzt in den Lumpenbrei hinein. Er schien nach zu fühlen. Wenig später holte er ein langes, faseriges Stück heraus,