Verraten und verkauft. Ralph Kretschmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ralph Kretschmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783944145884
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hätte gewettet, dass Mrs. Stone sich ihre Sekretärin mit Bedacht ausgewählt hatte.

      »Sie kennen ihre Chefin doch sicher gut, wenn sie ihre Sekretärin sind, Mrs. Broderson?« Maurer nippte an seinem Kaffee. »Oh, möchten Sie auch einen Kaffee?«

      Mrs. Broderson schüttelte den Kopf. Sie stand noch immer.

      »Ich vertrage Kaffee nicht«, sagte sie. »Tee auch nicht!«, fügte sie hastig hinzu.

      »Setzen Sie sich doch bitte, bevor ich einen steifen Nacken bekomme, weil ich immer zu Ihnen aufsehen muss!« Maurer deutete auf den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch. Verzagt schob Mrs. Broderson sich auf das Möbel.

      »Wie ist das nun mit ihrer Chefin?«, begann Maurer erneut. »Wie ist sie so – als Mensch und als Arbeitgeberin?«

      »Mrs. Stone ist eine sehr korrekte Arbeitgeberin!«, antwortete die graue Maus leise. »Sie legt viel Wert auf genaue und schnelle Arbeit, und ich habe immer pünktlich mein Gehalt bekommen! Das schien ihr wichtig zu sein.«

      »Und als Mensch, so als Privatperson?«, bohrte Maurer weiter.

      »Ich habe Mrs. Stone nie privat erlebt, immer nur beruflich, geschäftlich. Sie war immer sehr korrekt und …« Sie brach ab.

      »Und was?«, fragte Maurer. Abgebrochene Sätze machten ihn immer neugierig.

      »Auf mich wirkte sie immer sehr kühl und distanziert. Manche halten sie sogar für arrogant …« Wieder brach Mrs. Broderson ab. Maurer bekam das Gefühl, dass sich dieses Gespräch noch hinziehen würde.

      »Wenn Sie gestatten, Chef«, sagte Finnegan halblaut, »wenn Sie gestatten, führe ich das Gespräch mit Mrs. Broderson weiter. Sie müssen sich noch um die anderen kümmern …«

      Finnegan warf ihm einen Rettungsanker zu, und Maurer war dankbar. Er hasste es, seinem Gesprächspartner jedes Wort aus der Nase ziehen zu müssen.

      »Gut, dass Sie mich daran erinnern, Sergeant«, gab er zurück. »Ja, wenn sie so nett wären …«

      Er verabschiedete sich von Mrs. Broderson. Beim Hinausgehen zwinkerte Finnegan ihm zu. Maurer lief ein Schauer den Rücken hinunter. Er zwinkerte zurück. Als die beiden Frauen gegangen waren, legte er die Füße hoch und widmete sich seinem Kaffee.

      Noch war er heiß …

      Roberta Stone konnte nicht sehen, was der Entführer tat. Sie hing so, dass sie vor sich eine nackte Steinwand aus grob gefügten Blöcken sah, auf dem die flackernden Fackeln Schatten tanzen ließen. Der Mann machte auch nicht viele Geräusche, die ihr Aufschluss darüber geben konnten, was er trieb.

      Nachdem er seine Beschuldigungen ausgesprochen hatte, war er in Schweigen verfallen. Er lief herum und tat etwas. Manchmal kam er in ihr Blickfeld. Er hob nicht einmal seinen Blick zu ihr oder sah sie an. Als wäre sie gar nicht da. Sah sie nicht toll aus? Männer wollten sie, begehrten sie! Sie liebten ihre weiche, gepflegte Haut, ihr blondes Haar. Ihr Blick wanderte zur Seite, wo eine Strähne ihres langen Haares über ihre Brust fiel. Es war braun. Wie konnte das sein? Seit ihrem siebzehnten Geburtstag war sie nicht mehr brünett gewesen! Sie hatte eine Blondine aus sich gemacht! Männer bevorzugen Blondinen!

      Deshalb auch hatte sie jedes Körperhaar entfernt oder entfernen lassen. Nichts sollte ihre wahre Haarfarbe verraten. Und jetzt hatte ihr Haar wieder die verhasste braune Farbe! Wie konnte das sein?

      Das musste er getan haben! Was hatte er noch mit ihr angestellt, während sie bewusstlos gewesen war? Sie verrenkte sich, um so viel von sich sehen zu können, wie in ihrer Lage möglich war. Sie erkannte ihre Brüste, die Brustwarzen, Knie, Bauch … Alles so, wie sie es gewohnt war. Hatte er sie vergewaltigt? Etwas sagte ihr, dass er es nicht getan hatte. Sie kannte das Gefühl in ihrer Scheide, wenn ein Mann in ihr gewesen war.

      Vielleicht brauchte er etwas anderes, was ihn antörnt, fragte sie sich. Sie hatte schon alle möglichen Perversionen erlebt, und es würde sie nicht wundern, wenn hinter all dem ein neues, perverses Spielchen stecken würde.

      Fast wünschte sie sich, er würde endlich tun, was sie dachte, dass er tun wollte. Dann hätte sie es hinter sich, und alle könnten wieder nach Hause gehen. Aber so würde es nicht laufen. Er hatte es ihr schon gesagt: Wenn er mit ihr fertig wäre, würde es sie nicht mehr geben. Außerdem kannte er all ihre kleinen, miesen Pläne – und den großen: den geplanten Mord an ihrem Mann. Wenn er sie nicht gekidnappt hätte, wäre Alexander Stone jetzt schon Vergangenheit. Das nahm sie zumindest an. Sie musste sich eingestehen, dass sie nicht einmal annähernd sagen konnte, wie spät es war oder welcher Tag heute war. Wie lange war sie weggetreten gewesen? Stunden? Tage? Sie verspürte ein Hungergefühl in der Magengegend, und sie war durstig. Der Gummiball an ihrer Zunge wirkte rau, sie hatte keinen Speichel mehr. Sie bezweifelte allerdings, dass ihr Entführer ihr etwas zu trinken geben wollte. Er hätte ihr sonst wohl kaum diesen Gummiball zwischen die Lippen gesteckt.

      Außerdem war es heiß in diesem Keller. Es roch nach Kamin. Besser, als wenn es hier feucht und kalt gewesen wäre, dachte sie. Oder auch nicht! Kälte macht schmerzunempfindlich, hatte sie gelesen; und ihr schmerzten die Arme. Ihre Gelenke spürte sie schon nicht mehr. Wie lange würde sie das noch aushalten können?

      Roberta Stone hatte viele Menschen leiden lassen, vielen hatte sie beim Leiden zugesehen, und bei einigen hatte sie das Leiden noch verlängert. Wie lange würde sie selbst leiden können? Wie hoch war ihre Leidensgrenze?

      Dabei war noch nichts weiter geschehen. Sie war an den Händen nackt aufgehängt worden, und ein Verrückter bedrohte sie. Aber mehr als Drohungen waren bis jetzt nicht gefallen. Wenn man von ihrer Haarfarbe absah, war sie körperlich unversehrt.

      Wenn ihr nur einfallen würde, woher sie ihren Entführer kennen sollte! Vielleicht würde ihr das weiterhelfen! Wer war er?

      Sie konnte nicht einmal sein Alter schätzen. Die Narben und der Zustand seines Körpers ließen eine Schätzung einfach nicht zu. Er mochte vierzig oder sechzig Jahre zählen, sie konnte es nicht sagen. Wie viele Jahre sind nötig, bis ein Körper so aussah? Was muss jemand tun, um so zu werden? Der Mann musste durch die Hölle gegangen sein! Sie hatte einmal mit einem Feuerwehrmann geschlafen, der in einer Explosion fast zerfetzt worden war und den die Ärzte gerade noch eben so wieder zusammengeflickt hatten. Der Mann hatte schon schlimm ausgesehen, aber verglichen mit dem Entführer hatte er nur ein paar Kratzer abbekommen.

      Sie hatte sehen können, dass die Narben sich schnitten und überlappten. Neue Narben auf und über alten. Er musste sein Leben lang immer wieder schwerste Verletzungen erlitten haben. Was hatte sie damit zu tun? Sie konnte sich nicht an jemanden erinnern, dem sie so etwas zugefügt haben konnte.

      Sie hatte in dieses zerstörte Gesicht gesehen, aber da war kein Erkennen. Sie hatte in seine tiefbraunen Augen gesehen, aber auch da war nichts, das sie erkannt hätte, nichts, das sie an irgendwen erinnert hätte. Wer, wer, wer war ihr Peiniger?

      Es musste schon lange zurückliegen. Diese Menge an Verletzungen hatte er sich nicht in ein oder zwei Jahren zugezogen. Dafür reicht oft ein ganzes Leben nicht. Ihr fiel wieder ein, dass er ein militärisches Auftreten hatte, ohne auf seine Autorität zu pochen. Vielleicht war er im Krieg gewesen? Desert Storm? Dort waren viele G. I.s übel zugerichtet worden! Vietnam? Möglich, aber da war sie noch ein Kind gewesen, das waren verschwommene Erinnerungen.

      Konnte der Mann so alt sein? Vietnam fiel in die 70-er Jahre, schon möglich, dass er damals dabei gewesen war.

      Doch das brachte sie nicht weiter. Wer war er?

      Sie hörte Schritte von hinten kommen, leise Tritte von nackten Füßen, das Quietschen rostiger Scharniere, das Geräusch der Kohlen, die in die Glut nachrutschten, das stochernde Kratzen eines Schürhakens, Klappern, wieder das Quietschen der Ofentür, als sie sich wieder schloss.

      Er trat wieder in ihr Blickfeld. In den Händen hielt er eine lange Holzbank. Er stellte sich dicht vor Roberta und drückte sie mit der Linken von sich fort. Mit der rechten schob er die Holzbank unter ihre Position. Dann