Roberta war sich so sicher gewesen, nie mit diesem Verbrechen in Verbindung gebracht zu werden! Was, um Himmels Willen, hatte der Wahnsinnige, der sie entführt hatte, nur noch alles herausgefunden?
»Sophia Mullins, Bernhard Korridge und Sebastian Laurence.«
Roberta öffnete endlich doch die Augen. Diese Namen sagten ihr alle nichts. Was sollte sie denen denn angetan haben?
»Sie saßen in einem Oldsmobile, das am 28. Februar vor sechs Jahren in den Rockies eine Serpentinenstraße hochfuhr. Sie starben, als ein brennendes Motorrad von oben in ihr Fahrzeug stürzte. Du hattest die Harley gestohlen, nur zum Spaß, und oben in den Bergen hast du die Maschine in Brand gesetzt und über die Klippe geschoben, um deine Spuren zu verwischen. Es war dir egal, was unten passierte.«
Das hatte sie nicht gewusst! Es hatte doch nur eine kleine Spritztour werden sollen! Die Versicherung würde die Maschine bezahlen, und fertig. Drei Menschen waren dabei umgekommen? Roberta fühlte sich plötzlich leer und hohl.
»Die Zeit ist um«, sagte der Mann und trat ohne Vorwarnung die Bank unter Robertas Füßen weg. Sie sackte durch und hing schwer in ihren Ketten. Ihr Körper schaukelte hin und her. Ein Reißen ging durch ihre Handgelenke. Es war nur eine Erholungspause gewesen, damit sie die Folter länger durchstand! Er würde sie niemals entkommen lassen!
Roberta hörte, wie der Mann die Bank beiseite stellte. Sie fühlte seine Hand an ihrem Schenkel, als er ihre Pendelbewegung stoppte. Dann herrschte Stille. War er noch im Raum? Oder hatte er sie allein gelassen?
Roberta lauschte. Sie hörte nur das gedämpfte Prasseln der Fackeln und der Glut im Ofen. Sie hörte ihre eigenen Atemzüge. Sie spürte den dumpfen Schmerz in den Handgelenken und Schultern, und sie roch ihren Schweiß. Er roch nach Angst.
Finnegan kam nicht weiter. Sie hatte nach der Vergangenheit von Mrs. Roberta Stone gesucht und nur ein löchriges, grobes Netz aus Informationen gefunden, die sich sogar teilweise widersprachen. Da hatte jemand etwas verschleiern wollen. Nein, nicht nur wollen, er hatte es getan! Finnegan kam einfach nicht weiter. Sie hatte ihren Computer zu Höchstleistungen angespornt, aber nicht mehr gefunden, als sie aus jeder Klatschspalte herauslesen könnte. Mrs. Roberta Stone sollte doch Spuren hinterlassen haben an ihrer Schule, an ihrer Universität und im Berufsleben. Aber da war nichts. Sicher, sie war zur Schule gegangen und zur Uni, und dann hatte sie diesen Anwalt geheiratet, diesen Fouley, und von da an gab es detailliertere Angaben, die aber alle auf beängstigende Art zu glatt waren. Mrs. Stone schien Finnegan eine Art Aal zu sein, der überall durchrutscht und im Wasser keine Spuren hinterlässt.
Finnegan trank den Rest kalten Kaffees aus ihrem Becher. Wo könnte sie noch wühlen, um etwas über Mrs. Stone herauszufinden? Sie war im Strafregister, im Verkehrsregister und im Finanzamtsdatenspeicher gewesen. Alles sauber wie frisch gestärkte Maklerhemden – zu sauber. Finnegan spürte, dass da noch etwas war, das gefunden werden musste. Es lag nur an ihr, es dort zu suchen, wo sie es finden konnte.
Sie konnte nicht glauben, dass es jemandem gelingen konnte, seine Daten so sorgfältig zu bügeln, wie es hier geschehen war. Es war nahezu unmöglich. Von Mr. Stone war keine Hilfe zu erwarten. Finnegan hatte ihn in seinem Penthouse angerufen und nur kalte Ablehnung geerntet. Stone weigerte sich, auch nur anzunehmen, seine Frau könne aus anderen Gründen als geldlichen entführt worden sein. Vielleicht war es Altersstarrsinn, denn Stone war schon weit über Siebzig, vielleicht auch Selbstschutz. Vielleicht wollte er sich nur nicht eingestehen, dass er eventuell doch nicht der einzige Mann gewesen war, der mit seiner Frau schlief; vielleicht. Tatsache war, dass Mr. Stone blockte. Er saß zu Hause und wartete darauf, dass sein Telefon klingelte und ihm jemand sagte, er solle soundsoviel Geld zu derundder Uhrzeit an denundden Ort bringen.
Finnegan hatte das Gefühl, dass er lange dort sitzen würde. Die Entführung war jetzt mehr als einen halben Tag her. Bis jetzt war noch keine Lösegeldforderung eingegangen. Der Chef hatte recht behalten. Das war keine erpresserische Entführung. Da steckte etwas anderes dahinter. Finnegan fielen drei plausible Szenarien ein. Erstens könnte es sich um ein Verbrechen aus Leidenschaft handeln: Jemand will die Dame, und da sie für ihn unerreichbar ist, entführt er sie kurzerhand. Zweitens könnte es sich um Rache handeln. Das war noch nicht auszuschließen! Mrs. Stone mochte durchaus Feinde haben, von denen ihr vertrauensseliger Mann keine Ahnung hatte. Finnegan hielt Roberta Stone für eine Frau, die leicht zu hassen war.
Die dritte Möglichkeit war die unappetitlichste. Mrs. Stone konnte einem Serienmörder in die Hände gefallen sein. Dann wurde es wahrscheinlich blutig. Finnegan hoffte inständig, dass es nicht so war. Sie hasste den Anblick aufgeschlitzter Menschen. Sie persönlich tippte auf Rache als Motiv. Wahrscheinlich würde man irgendwann die geschändete Leiche von Roberta Stone aus dem Hudson ziehen, mit einer Kugel im Kopf oder durchschnittener Kehle.
Finnegan rieb sich die Augen. Sie war müde, daran konnten auch Unmengen Kaffee nichts ändern. Sie knipste ihre Schreibtischleuchte aus und fuhr ihren Rechner runter.
Auf dem Weg hinaus ging sie beim Büro ihres Chefs vorbei und spähte hinein. Maurer saß über die Zeichnung des Tatortes gebeugt und kritzelte auf einen Zettel Notizen.
»Nacht, Detective, ich mach Schluss für heute! Sie sollten auch eine Mütze voll Schlaf nehmen!«
Maurer versprach es und wünschte Finnegan eine gute Nacht. Er sah ihr hinterher, bis sie in den Aufzug stieg, der sie in die Tiefgarage zu ihrem Auto bringen würde. Er bedauerte sehr, dass Sergeant Finnegan in gut einer halben Stunde allein in ihrem Bett liegen würde.
Dann seufzte er und beugte sich wieder über den Plan. Ein, zwei Stunden würde er noch machen, bis er nach Hause ging – in seine fast leere Wohnung.
Er saß bewegungslos auf der Werkbank und wartete, dass es an der Zeit war weiterzumachen. Alles musste seine Richtigkeit haben. Seine Gefangene hing an ihrer Kette und rührte sich nicht. An ihrer Atmung konnte er erkennen, dass sie mit sich kämpfte. Sie konnte nur durch die Nase ein- und ausatmen. Das Geräusch war scharf beim Einatmen und langsam bei Ausatmen. Sie rang mit sich. Sie wusste nicht, was kam, wusste nicht, was mit ihr geschehen würde. Aber noch fehlte ihr die Einsicht. Noch hatte sie ihre Schuld nicht erkannt. Aber das würde sie! Es war eine Frage der Zeit.
Er würde gleich mit seiner Aufzählung weitermachen.
Jeden einzelnen Fall würde er aufführen. Wenn sie wüsste, wie lange er sie schon beobachtete – oder hatte beobachten lassen, als er selbst dazu nicht in der Lage gewesen war. Die langen Jahre im Ausland … Er hatte viel Geld für Detektive ausgegeben, immer darauf bedacht, dass keiner von ihnen einen Blick auf das ganze Bild erhaschen konnte. Jeder kannte nur eine Nuance des Puzzles. Nur er allein hatte den Überblick auf alle Teile und kannte das Gesamtbild.
Und nie hatte Roberta etwas bemerkt.
Er ließ sich von der Bank gleiten. Ihr schweißnasser Rücken glänzte im Fackellicht. Ein kleines Rinnsal zog seine Bahn zwischen den Muskelsträngen neben ihrer Wirbelsäule und verschwand zwischen ihren Gesäßbacken. Sie verlor immer mehr Flüssigkeit. Er musste darauf achten, dass sie nicht zu sehr dehydrierte.
Sie stand unter einer immensen Anspannung. Was kam als Nächstes? Die Ungewissheit nagte an ihr. Er wusste sehr gut, wie sie sich fühlte. Dabei blieben ihr die meisten Schmerzen sogar erspart.
Er ging um den hängenden Körper herum. Sie hing in der Mitte eines Kreises, auf dem er seine Bahn zog. Langsam und mit gemessenen Schritten ging er um sie herum, wieder und wieder. Schweigend kreiste er um sie wie der Mond um die Erde. Sie hatte sonst nichts, mit dem sie sich hätte beschäftigen können; schon deshalb folgte sie ihm mit ihrem Blick. Wenn er aus ihrem Blickfeld verschwand, sah sie sofort zur anderen Seite, wo er wieder erscheinen würde. Mehrere