Sie versuchte erneut die Augen zu öffnen. Gleißende Helligkeit. Eine Träne quoll aus ihrem Auge, als sie die Lider heftig zusammenpresste. Sie stellte fest, dass sie ihren Kopf nicht heben konnte. Ihr Nacken schmerzte. Sie fühlte ihr Haar an den Oberarmen … lag sie? Sie versuchte die Beine zu bewegen, aber da war ein Widerstand … Ihre Beine waren angebunden. Angebunden? Sie stöhnte und bewegte sich heftig. Schmerzen in den Handgelenken! Das Klopfen in den Schläfen nahm ein rasendes Tempo an. Sie war gefesselt. Gefesselt! Verflucht, was war hier los? Roberta Stone war keine sehr impulsive Person. Sie war immer kühl und berechnend gewesen. Trotz des Kopfschmerzes riss sie sich zusammen. Sie spürte ihren Puls rasen. Ganz ruhig, Bobby! Du darfst jetzt nicht ausflippen!
Sie stellte ihr sinnloses Gezappel ein. Sie war gekidnappt worden, so viel war einmal klar. Von wem? Das würde sich wohl noch zeigen, aber sicher war es jemand, der Geld haben wollte. Warum sonst sollte sie jemand entführen und bewegungsunfähig aufhängen? Da wollte jemand an das Geld ihres Mannes. Alexander Stone war ein sehr reicher Mann. Das war allgemein bekannt. Sie musste also nur ruhig bleiben und auf ihre Chance warten. Niemand konnte garantieren, dass sie auch frei kam, wenn Alex das Lösegeld bezahlt hatte. Also musste sie ihre Kräfte schonen und auf eine Gelegenheit warten, die ihr die Flucht ermöglichte. Was, wenn der oder die Entführer sie einfach hier hängen und verfaulen ließen? Nein! Sie rief sich zur Ordnung. Keine negativen Gedanken! Du kommst hier raus! Bobby kommt überall raus!
Wenn nur der Kopf nicht so hämmern würde!
Sie versuchte ihre Zunge zu bewegen. Da war etwas in ihrem Mund … etwas, das verhinderte, dass sie die Zunge aus dem Mund strecken konnte. Sie war auch noch geknebelt. Roberta Stone begann wütend zu werden. Sie übte Macht aus! Sie war es gewohnt, Befehle zu geben und dass die Leute sprangen, wenn sie pfiff – und jetzt hing sie hier, war nicht in der Lage sich zu bewegen, hilflos der Gewalt von irgendwelchen Kidnappern ausgeliefert! Sie malte sich aus, was sie mit ihren Entführern anstellen würde, wenn sie sie in die Finger bekäme.
Was konnte sie tun? Sie war zu absoluter Passivität verurteilt. Wenn ihr niemand half, würde sie hängend verrotten. Angst mischte sich in ihre Wut. Ein Gefühl, das sie nicht oft in ihrem Leben gehabt hatte. Bobby Stone stand über den Dingen.
So konnte es doch nicht zu Ende gehen? Sie war reich, relativ jung, skrupellos und hatte noch so große Pläne …
Roberta Stone, Frau eines der reichsten Männer der USA, verwitwete Mrs. Bernhard Fouley, erfolgreicher Anwalt, der ihr ein erkleckliches Vermögen hinterlassen hatte; Wohltäterin, Gönnerin und einiges mehr – und nicht alles davon war ehrenhaft. Bobby wusste als einzige um ihre zahllosen Missetaten. Nie war sie erwischt worden oder nur der kleinste Anschein eines Verdachtes auf sie gefallen, dazu war sie immer zu raffiniert gewesen – und zu gründlich. Sie hatte immer sauber die Scherben hinter sich aufgeräumt.
Was, wenn diesmal sie selbst das Opfer sein würde, wenn sie auf der Strecke bliebe, wie so viele, die ihr im Weg gestanden hatten? Bobby lief ein Frösteln über den Körper bei dem Gedanken an ein gewaltsames Ende. Sie spürte, wie sich ihr Nackenhaar aufstellte und sich ihre Brustwarzen aufrichteten. Seltsam. Sie vermisste das vertraute Gefühl des schützenden Büstenhalters. Sie bewegte den Oberkörper leicht hin und her. Das Gefühl von Stoff fehlte. Sie zog ihre Gesäßmuskeln zusammen. Auch hier nicht das Empfinden einer Berührung, wie man es hat, wenn die Haut in der Kleidung gleitet. Sie war nackt!
Verdammnis! War sie einem Perversen in die Hände gefallen? Das war doch krank! Sie hing hier nackt, entführt, und, wie ihr schien, mit gespreizten Beinen, bewegungsunfähig, wie in einem billigen Sadomaso-Pornofilm! Gleich würde eine Horde als Ku-Klux-Klan-Anhänger verkleidete Footballspieler hereinstürmen und sie vergewaltigen! Nun, wenn es nur das war! Bobby hatte freiwillig schon Schlimmeres getan! Aber was, wenn es ein psychopathischer Killer war, der sie hier hin gehängt hatte? Ein Serienkiller, dem sie als nächstes Schlachtopfer dienen sollte? Panik schlich sich in ihre Gedanken. Bobby war es gewohnt, zu handeln. Jetzt war das das Einzige, was sie nicht konnte. Und somit konnte sie gar nichts tun. Sie musste warten und sehen, was ihre Entführer machen würden.
Wenn nur ihr Kopf nicht so schmerzen würde! Und wenn nur das Licht nicht so grell scheinen würde …
Der Mann setzte sich auf. Er war schon seit geraumer Zeit wach und hatte beobachtet, wie seine Gefangene zu sich kam. Sie würde hässliche Kopfschmerzen haben, und ihre Augen würden übermäßig lichtempfindlich sein. Das lag an den Drogen, die er ihr verabreicht hatte. Er hatte darauf geachtet, nur das unbedingt nötige Maß an Substanzen zu benutzen, das eben nötig war, damit er sein Vorhaben umsetzen konnte, ohne jemanden in Gefahr zu bringen. Nein, er wollte sie sicher nicht unnötig verletzen. Er wusste nur zu gut, wie es war, wenn man verletzt wurde.
Er betrachtete den Körper, der da ein kleines Stück über dem Steinboden baumelte. Nur langsam wurde sich die Erwachende ihrer Situation bewusst. Sie bäumte sich in ihrer Fesselung auf, soweit diese das zuließ. Sie kämpfte dagegen an, wand sich, aber letztendlich sah sie das Ausweglose ihrer Lage ein. Als sie ruhig da hing und er mehrere Minuten lang keine Bewegung vermerken konnte, schien es ihm an der Zeit zu sein, seinen Plan voranzutreiben. Er hatte nicht endlos Zeit.
Genau genommen hatte er überhaupt keine Zeit.
Aus seiner Tasche, die er neben der Werkbank abgelegt hatte, nahm er eine Kerze und ein Sturmfeuerzeug, ähnlich einem Zippo. Die billige Kopie würde niemand zurückverfolgen können. Er durfte nichts zurücklassen, das der Polizei als Hinweis dienen konnte, wer er war – und wer er gewesen war.
Er ging hinüber zu seiner Gefangenen. Er bewegte sich lautlos über den rauen Steinboden, ging in einem Halbkreis um die Hängende herum, bis er ihr ins Gesicht sehen konnte. Sie hielt die Augen geschlossen. Das war der Lichtempfindlichkeitseffekt. Er trat ein paar Schritte zurück. An der Wand befand sich ein Schalter für die einzige Glühbirne, die Licht spendete.
Es war ein alter Knebelschalter, bei dem man einen Knopf drehen muss, der dann den Schaltvorgang vollführt. Mit lautem Knacken rastete die Mechanik ein. Das Licht erlosch. Es war schlagartig stockfinster. Bobby Stone schrak heftig zusammen. Durch die geschlossenen Lieder nahm sie wahr, dass das Licht aus war. Ganz aus oder nur dunkler? Sie riss ihre Augen auf. Schwärze.
Da war ein Geräusch gewesen, bevor das Licht ausgegangen war! Das war ein Schalter. Schalter schalten sich normalerweise nicht selbst, es musste also jemand hier sein. Oder hatte eine Uhr das Licht automatisch ausgemacht? Wenn sie nur rufen oder reden könnte! Aber alle Versuche, den Gegenstand, von dem sie mittlerweile glaubte, dass es ein Gummiball war, aus dem Mund zu stoßen, hatten nur zur Folge gehabt, dass ihr nun die Zungenspitze weh tat.
Ein neues Geräusch: ein metallisches Klicken, gefolgt von einem drehend-reibenden Geräusch, gefolgt von einem »Wupp!«. Ein Feuerzeug! Im selben Moment kroch flackernd das Licht einer kleinen Flamme über ihre gequälten Netzhäute. Sie blinzelte, denn obwohl die Flamme nur spärliche Helligkeit verbreitete, war sie es nach der langen Dunkelheit und mit den von der Droge lichtempfindlichen Augen nicht gewohnt, ins Licht zu sehen.
Der Mann hielt den Docht der Kerze in die Flamme seines Feuerzeugs und wartete, bis der Docht Feuer gefangen hatte. Er ließ das Feuerzeug zuschnappen, hielt die brennende Kerze höher und trat an die hängende Roberta Stone heran.
»Guten Abend, Mistress Stone!«, sagte er leise, mit überraschend wohlklingender Stimme.
In Roberta Stones Augen stand Furcht, als sie in das verwüstete Gesicht ihres Entführers starrte. Der Mensch schien nur noch aus Narbengewebe zu bestehen. Schnitt- Brand- und andere Verletzungen hatten auf ihm ihre Spuren hinterlassen. Das flackernde Licht der Kerze verstärkte den Eindruck noch, sie sei das Opfer von Jack the Ripper oder Quasimodo.
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