Die Konzentration an Immunzellen ist im Kolostrum am höchsten, sinkt in den folgenden Wochen und Monaten, um ab dem sechsten Lebensmonat des Kindes wieder anzusteigen – eben zu einer Zeit, in der das Kind aktiver wird, Dinge greift und mit dem Mund erforscht. In der es seine Umgebung robbend und krabbelnd erkundet. Viele Abwehrstoffe erreichen sogar bis zum Ende des zweiten Lebensjahres des Kindes Werte ähnlich dem Kolostrum7. Noch ein Argument für eine lange Stillzeit.
1.1.2 … unterstützt die Entwicklung des kindlichen Nervensystems …
Die Inhaltsstoffe der Milch und die sensomotorische Stimulation beim Stillen fördern die Entwicklung des unreifen kindlichen Nervensystems. Bioaktive Substanzen in der Muttermilch beeinflussen – neben Immunsystem und Stoffwechsel – auch die körperliche Entwicklung, IQ, Temperament und Sozialisierung des heranwachsenden Menschen8. Denn sie unterstützen die gesunde Entwicklung des Gehirns.
Essgewohnheiten der Mutter und ihr Ernährungszustand beeinflussen den Vitamin- und Mineralstoffgehalt der Milch. Studien haben aber gezeigt, dass selbst Mütter, die in ressourcenarmen Gegenden der Welt mit knappem Nahrungsangebot leben, Milch guter Qualität bilden. Also erfolgreich stillen können9.
1.1.3 … stärkt Kinder mit Herzfehler …
Kinder mit angeborenem Herzfehler und teilweise auch welche mit anderen Grunderkrankungen leiden oft unter einer reduzierten Spannung der Muskulatur. Das Stillen trainiert wichtige Muskeln im Mund und Gesicht. Das hat Einfluss auf die gesamte Körperspannung, Haltung und Atmung. Die Zunge Neugeborener liegt beim Schlucken weit vorne im Mund. Durch das Saugen an der mütterlichen Brust lernt das Kind, die Zunge von vorne im Mund nach hinten gaumenwärts zu bringen. Diese Umbahnung des Schluckens benötigt etwa sechs Monate, und erst das macht es dem Baby später möglich, breiige Nahrung zu schlucken und aus einem Glas zu trinken. Zudem wird die Entwicklung des Gaumens und des Kiefers günstig beeinflusst: Zungen- und Lippenmuskulatur werden trainiert, was für das spätere Sprechenlernen von Bedeutung ist. Der Mundschluss und damit eine regelmäßige Nasenatmung werden angeregt, wodurch seltener Infekte und Mittelohrentzündungen auftreten. Dieser Übungseffekt für die Mundmuskulatur ist bei einer Flaschenfütterung im ersten Lebenshalbjahr kaum gegeben, vor allem dann nicht, wenn mit einem ungünstigen Sauger gefüttert wird10.
1.1.4 … und fördert die Gesundheit und das Selbstbewusstsein der Mutter
Für die Gesundheit der Mutter hat Stillen ebenfalls einen nicht zu unterschätzenden, positiven Effekt: Nach der Geburt wird das Hormon Oxytocin ausgeschüttet, das sorgt für Nachwehen, eine rasche Rückbildung der Gebärmutter und eine Reduzierung des mütterlichen Blutverlustes. Die an der Produktion und Freisetzung von Muttermilch beteiligten Hormone regulieren darüber hinaus den Stoffwechsel der Mutter (siehe auch Kapitel 6.1). Die Stillhormone unterstützen zudem die Mutter-Kind-Bindung. Sie werden beim Stillen und engem Körperkontakt ausgeschüttet und wirken zudem entspannend und psychisch ausgleichend. Das reduziert das Risiko für eine Depression nach der Geburt.
Nach meiner Erfahrung ist auch der Aspekt der Selbstwirksamkeit durch gelingendes Stillen nicht zu unterschätzen. Gerade wenn das Kind schwerkrank zur Welt gekommen ist und sein (Über-)Leben zunächst von einer hochtechnisierten Medizin abhängt, kann es das Selbstwert- und Körpergefühl der Mutter entschieden stärken. Denn sie erlebt, dass sie ihr Kind mit ihrem Körper ernähren kann und damit einen wichtigen Beitrag für dessen Gesundheit und Wohlbefinden leistet11.
Und zum Trost, falls du dein (herz-)krankes Kind (noch) nicht stillen kannst: Viele dieser Stilleffekte lassen sich auch bei einer Fütterung mit der Flasche oder per Sonde erreichen. In diesem Ratgeber erfährst du, wie du die Beziehung zu deinem Kind beim Füttern von Muttermilch oder Ersatzmilch mit der Flasche gestalten kannst12. Muttermilch an sich ist in ihrer Zusammensetzung und Wirkung auf den kindlichen Organismus unnachahmlich.
Ein krank geborenes Kind profitiert in besonderem Maße von der Milch seiner Mutter. Sie schont dessen geschwächten Körper und kann ihn vor gefährlichen Infektionen mit Erregern im Klinik- und häuslichen Umfeld schützen.
Muttermilch kommt immer in der richtigen Temperatur und hygienisch einwandfreiem Zustand aus der mütterlichen Brust und sie kostet nichts. Hat sich das Stillen (nach vielleicht anfänglichen Schwierigkeiten) erst einmal eingespielt, ist es überall und ohne großen Aufwand möglich.
1.2 Besonderheiten bei (herz-)kranken Babys
Die Variation angeborener Herzfehler ist groß. Sie geht von kleineren Löchern in der Herzscheidewand (deren spontaner Verschluss ohne medizinischen Eingriff abgewartet werden kann und die kaum Auswirkungen auf das Trinkverhalten und Allgemeinbefinden des Neugeborenen und Säuglings haben) bis hin zu komplexen Herzfehlern, welche schon in den ersten Lebenstagen oder -wochen einer operativen und/oder einer Behandlung mittels Herzkatheter bedürfen. Manche Herzfehler sind medizinisch korrigierbar. Dies Kind gilt also nach einem oder mehreren Eingriffen am Herzen als herzgesund und muss mit nur wenigen bis gar keinen Einschränkungen im Alltag rechnen. Andere wiederum können (derzeit) nur palliativ behandelt werden. Palliativ bedeutet hier, dass der Herzfehler nicht anatomisch korrigiert, also nicht geheilt werden kann. Dann ermöglichen Operationen dem Kind ein möglichst langes Leben mit möglichst wenig Beschwerden.
Je nach Herzfehler können die kindlichen Organe schon in der Schwangerschaft schlechter mit Blut und Sauerstoff versorgt gewesen sein. Dann ist das Baby zum Zeitpunkt der Geburt vielleicht schon schwer krank. Oder aber das Kind kommt äußerlich scheinbar gesund und fit auf die Welt und es treten erst im Laufe der ersten Lebensstunden, -tage oder -wochen Symptome auf. Manche herzkranken Kinder kommen zu früh auf die Welt. Andere bringen vielleicht zusätzlich zum Herzfehler ein angeborenes Syndrom mit und/oder Erkrankungen anderer lebenswichtiger Organe. All das hat Einfluss auf den Allgemeinzustand eines Neugeborenen und Säuglings und auf dessen Trink- und Essverhalten.
Neugeborene und Säuglinge mit angeborenem Herzfehler können folgende Besonderheiten beim Stillen oder Trinken aus der Flasche zeigen:
•Es kann länger dauern, bis die Verdauung normal funktioniert, weil sich der Magen-Darm-Trakt langsamer entwickelt. Oft verbleibt die Nahrung länger im Magen und Wassereinlagerungen im Verdauungstrakt können zusätzlich störend wirken13.
•Das Baby hat beim Trinken wenig Ausdauer, wird schnell müde und bricht die Mahlzeit aus Erschöpfung ab, bevor es satt ist.
•Es trinkt kürzer, aber meldet sich dafür häufiger.
•Die Stillmahlzeiten dauern länger, weil es beim Trinken häufige Pausen braucht.
•Es hat infolge schwächerer Muskulatur im Gesicht Probleme, die Brustwarze richtig zu fassen und saugt schwächer an der Brust. Infolgedessen wird es nicht satt und die Milchbildung wird unzureichend angeregt.
•Es erbricht sich häufiger nach der Mahlzeit.
•Weil das Kind sich beim Trinken so anstrengen muss, und/oder weil es aufgrund seiner (Herz-)Erkrankung einen erhöhten Energiegrundumsatz hat, nimmt es langsamer an Gewicht zu als ein gleichaltriges gesundes Baby.
•Schwer kranke, intensivmedizinisch betreute Neugeborene müssen häufig