Manche Stationen verfügen über eine eigene Stillberaterin. Die Regel ist dies leider nicht. Deshalb ist es so wichtig, eine Hebamme gerade für die erste Zeit mit dem Neugeborenen zu haben, sowohl für die Zeit des stationären Aufenthalts in der Kinderklinik als auch für die erste Zeit nach der Klinikentlassung zu Hause.
In Deutschland übernimmt die gesetzliche Krankenversicherung die Kosten für tägliche (Haus-)Besuche oder telefonische Beratungen durch eine Hebamme in den ersten zehn Tagen nach der Geburt und weitere 16 Besuche im Zeitraum bis acht Wochen nach der Geburt. Darüber hinaus werden weitere acht Hausbesuche oder Beratungen bei Stillschwierigkeiten oder Ernährungsproblemen des Säuglings übernommen, bei nichtgestillten Kindern bis zu einem Alter von neun Monaten und bei gestillten Kindern bis zum Ende der Stillzeit – egal wie lange die Mutter stillt. Hat die Mutter darüber hinaus noch Betreuungsbedarf (zum Beispiel, wenn ihr Kind erst mehrere Wochen oder sogar Monate nach der Geburt mit den Eltern nach Hause entlassen wird), kann eine Kinderärztin ein Rezept für weitere Besuche ausstellen. Bist du privat krankenversichert, informierst du dich am besten schon während der Schwangerschaft darüber, welche Leistungen von deiner Kasse übernommen werden.
Leider besteht in Deutschland aktuell (Stand Frühjahr 2021) ein Mangel an Hebammen. Für viele junge Frauen (und Männer) scheint der Hebammenberuf nicht mehr so attraktiv wie noch vor einigen Jahren, gleichzeitig sind die Geburtenraten in den letzten Jahren gestiegen. Deshalb haben immer mehr junge Eltern Schwierigkeiten, eine Hebamme für die Betreuung zu finden. Falls es euch genauso geht, rate ich euch, Kontakt zu einer Stillberaterin aufzunehmen und/oder euch einer Stillgruppe anzuschließen. Vielleicht findet ihr eine Hebamme, die zwar keine freien Kapazitäten für Hausbesuche mehr hat, euch aber für telefonische Beratungen zur Verfügung steht. In Kapitel 8 findet ihr hilfreiche Adressen.
Wegen der besseren Lesbarkeit habe ich mich entschieden, bei der Nennung von Berufsgruppen jeweils nur eine Bezeichnung zu nehmen. Das ist überwiegend die weibliche. Gemeint sind jeweils alle Geschlechter, wenn ich von „dem Partner“ spreche, meine ich die Partnerin ebenso, denn „Familie“ ist neben Vater-Mutter-Kind auch eine Regenbogen- oder Patchworkfamilie und alles, was sich selbst als solche bezeichnet.
Am Ende des Buches findet ihr ein Register mit einer Übersicht der erwähnten (Fach-)Begriffe. Dies soll euch erleichtern, direkt nachzuschlagen, falls ihr Informationen zu einem bestimmten Thema sucht.
1. Allgemeine Informationen
1.1 Warum Muttermilch so wichtig ist – gerade für kranke Säuglinge
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt jungen Müttern ausschließliches Stillen in den ersten sechs Lebensmonaten des Kindes** und ein Weiterstillen nach Einführung der Beikost bis zu einem Alter von zwei Jahren oder länger1.
1.1.1 Muttermilch: Ein Wunder der Natur …
Weshalb die Empfehlung der WHO so lautet, ist schnell erklärt: Muttermilch ist das natürliche, artgerechte und gesunde Nahrungsmittel für Neugeborene und Säuglinge. Sie enthält neben Wasser über 100 verschiedene andere Stoffe, genau genommen sogar über 1000, wenn man bedenkt, dass in Muttermilch allein mehr als 200 verschiedene Arten Mehrfachzucker und über 700 verschiedene Arten Bakterien zu finden sind. Künstliche Säuglingsnahrung (Formula) hingegen enthält neben Wasser nur etwa 50 verschiedene Inhaltsstoffe. Eine schöne Übersicht über die Inhaltsstoffe von Muttermilch im Vergleich zu Formula findet ihr unter www.hebammenverband.de → Hebammenforum → Materialien zum Herunterladen → „Was ist eigentlich in Muttermilch und in Formula?“
Muttermilch ist in ihrer Zusammensetzung variabel und immer genau auf die Bedürfnisse des wachsenden Kindes abgestimmt. Die Milch für ein Neugeborenes unterscheidet sich in ihrer Zusammensetzung von der für einen älteren Säugling. Jede Mutter bildet die für ihr eigenes Baby passende Milch. Neben einem für den kindlichen Stoffwechsel optimalen Nährstoffangebot enthält Muttermilch eine Vielzahl lebender Zellen (rund 4000 allein in einem Tropfen!), unter anderem Stammzellen mit ähnlichen Eigenschaften wie embryonale Stammzellen sowie spezifische, immunologisch wirksame Substanzen und Mikroorganismen, darunter eine Vielzahl von Bakterien wie Milchsäure- und Bifidobakterien, Staphylokokken, Streptokokken und Pseudomonas. Etliche von denen tragen zur Entwicklung eines kompetenten, kindlichen Immunsystems bei.
Wissenschaftler, die sich mit der Zusammensetzung der Muttermilch beschäftigen, finden immer neue Bestandteile – die meisten haben mehrere Funktionen für den kindlichen Organismus, kooperieren miteinander und ergänzen einander in ihren Wirkmechanismen. Für seine Entwicklung braucht das kindliche Immunsystem mindestens zwei Jahre. Muttermilch enthält viele Stoffe, die das Kind während dieser Zeit vor schweren Infektionen schützen und gleichzeitig helfen, sein Immunsystem aufzubauen. Bereits während der Schwangerschaft wird das Kind passiv immunisiert, und zwar durch den Transfer von Immunglobulin-G-Zellen (IgG) aus dem mütterlichen Blut ins kindliche über die Plazenta. Nach der Geburt übernimmt die Brust diese Aufgabe zum Teil.
Kolostrum, die Muttermilch der ersten Stunden und Tage, hat beispielsweise großen Einfluss auf die Besiedelung des kindlichen Magen-Darm-Traktes mit gesunden Mikroorganismen. Dadurch haben es krankmachende Erreger schwer, sich im Darm zu vermehren. Zudem legen sich bestimmte Stoffe in der Muttermilch wie ein Schutzfilm auf die noch unreife und durchlässige Darmschleimhaut des Neugeborenen. So verhindern sie, dass potenziell schädliche Zellen eindringen. Studien zeigen: Je länger die Mutter ausschließlich stillt, desto umfassender ist der Schutz vor Infektionen2.
Die Ernährung mit Muttermilch von Anfang an stellt wichtige Weichen für die Zukunft des Immunsystems – also auch für die spätere Gesundheit des kleinen Menschen. Warum das so ist, das können Wissenschaftlerinnen noch immer nicht genau sagen. Jedoch haben zahlreiche Studien gezeigt, dass gestillte Kinder (im Vergleich zu nicht gestillten) ein geringeres Risiko für Infektionskrankheiten, plötzlichen Kindstod, Allergien und die Entwicklung von Übergewicht, Diabetes Typ-1 und Typ-2 haben3. Zudem erfolgt die Immunisierung des Kindes durch die Milch seiner Mutter dynamisch: Die Mutter hat über die Brustwarze Kontakt zum Keimspektrum im Gesicht und Mund ihres Kindes. Ihr Immunsystem erkennt potenziell schädliche Bakterien und Viren und reagiert sofort mit der Bildung von Immunstoffen, die diese bekämpfen. Diese Abwehrstoffe werden über den Darm der Mutter (wie genau dies funktioniert, ist noch nicht vollständig geklärt) oder deren Blut in die Muttermilch geschleust. Somit schützt die Mutter mit ihrer Milch das eigene Kind vor genau den Keimen, die in seiner direkten Umgebung vorhanden sind4. Dieser Mechanismus ist vor allem für Kinder wichtig, die im Krankenhaus betreut werden. Genauso erhöht sich bei einer Infektion der Mutter die Zahl der Immunzellen und anderer Abwehrstoffe in ihrer Milch, um das Kind vor einer Ansteckung zu schützen. Damit der Keimaustausch zwischen Mutter und Kind möglich ist, bedarf es des direkten Körperkontakts zwischen beiden. Stillhütchen oder ausschließliches Pumpen oder Ausstreichen von Milch verhindern dies. Deshalb sollten auch sehr kranke Neugeborene und Säuglinge, die vielleicht zu schwach zum Trinken an der Brust sind, immer mal wieder die Möglichkeit bekommen, an der mütterlichen Brust zu lecken oder zu saugen5.
Seit langem ist in der Medizin bekannt, dass Frühgeborene in besonderem Maße von einer Ernährung mit Muttermilch profitieren. Muttermilch hat für sie – zusätzlich zur nährenden – eine besonders schützende Funktion. Sie schützt vor lebensbedrohlichen