Diese Küste war das Nordostufer von Clare Island. Clare Island lag der Clew Bay vorgelagert, doch das wußten die Männer der „Gran Grin“ nicht. Sie konnten nicht einmal ermitteln, daß sie hinter einer Insel Schutz gesucht hatten, die Dämmerung, Gischt und Regen behinderten die Sicht.
Achtzehn Meilen westlich von Westport lag die „Gran Grin“ nun. De la Torre und der Bootsmann hatten vom Achterdeck aus einen halbwegs sicheren und geschützten Platz gefunden, und hier machte der Viermaster mittels eines Notankers fest. Die Anker der Galeone waren vor Calais geblieben, als sie beim Angriff der Brander hatten gekappt werden müssen.
Trossen wurden zum Land hin ausgefahren und um Felsen und knorrige Bäume gelegt, ein in der Sturmsee gleichsam selbstmörderisches Unternehmen. De la Torre leitete das Manöver, und einmal wurde die Jolle, in der er auf der Heckducht saß und die Ruderpinne hielt, gegen einen Felsen geworfen, daß sie beinahe zerschellte. Mit der ramponierten, lecken Jolle konnten der erste Offizier und seine Rudermannschaft gerade noch zur „Gran Grin zurückpullen.
Nach diesem Manöver fielen die Männer vor Erschöpfung fast um. Sampedro, der Koch, hatte eine Suppe zubereitet, die wieder größtenteils aus Wasser bestand, die die Männer aber dennoch gierig in sich hineinschlürften.
Danach sanken sie in ihre Kojen oder legten sich einfach auf der Back zum Schlafen nieder. Vor dieser unbekannten Leeküste war die See zwar noch aufgewühlt, aber es bestand keine Gefahr mehr, durch Brecher über Bord gespült zu werden.
Kapitän de Mendoza hatte den Seemann bestatten lassen, der in seiner Todesstunde nach ihm verlangt hatte. Jetzt kehrte er in seine Kammer zurück, um sich selbst etwas auszuruhen. Er mußte diese Gelegenheit wahrnehmen, es war seine Pflicht, neue Kraft zu schöpfen, denn später, bei Erwachen des Tages, wurde er wieder an Oberdeck gebraucht und mußte seinen Männern ein Vorbild sein – kein todmüder, total verbiesterter Kapitän, der kaum noch seine Entscheidungen treffen konnte.
Er bereitete sich nicht die Mühe, sich zu entkleiden. In voller Montur sank er auf sein Lager. Vor dem Einschlafen dachte er an den Seemann, der jetzt auf dem Grund der See seine ewige Ruhe gefunden hatte. Wie er hatten auch viele andere Sterbende nach dem Kapitän verlangt – nach „ihrem“ Capitán, dem sie treu ergeben und verbunden gewesen waren. Kein materieller Reichtum konnte aufwiegen, was dieser Beweis ihrer absoluten Loyalität für de Mendoza bedeutet.
Aber de Bobadilla – wie stand es mit dessen Treue und Redlichkeit? Verwaltete er die Kriegskasse wirklich so, wie man es von ihm verlangen mußte? War es nicht seltsam genug, daß er über so große „körperliche Reserven“ verfügte, während alle anderen – einschließlich seines Kapitäns – jetzt fast bis auf die Knochen abgemagert waren?
Erst jetzt hatte de Mendoza Muße, darüber nachzusinnen. Erst jetzt wurde ihm richtig klar, daß da etwas faul sein mußte.
Er beschloß, de Bobadilla auf den Zahn zu fühlen. Über diesem Gedanken schlummerte er ein.
Vega de la Torre und der Bootsmann, der von allen nur Vallone genannt wurde, hatten die Ankerwache übernommen.
Es wurde Tag, und zu tun gab es vorläufig nichts mehr – nur das eine: neue Kraft schöpfen.
Der Sturm hatte nur geringfügig nachgelassen und heulte mit fast ungebrochener Kraft weiter gegen die irische Westküste an. Gischt und Regenschwaden ließen keine Rundumsicht zu und kapselten die „Gran Grin“ von ihrer Umgebung ab.
Das umgekippte Heringsfaß lag vor der grauen Mauer der einzigen Kneipe von Westport. Wie diese Spelunke eigentlich richtig hieß, ließ sich nicht ermitteln, denn ein Schild gab es nicht mehr, nur noch die schmiedeeiserne Halterung davon, die den wüsten Sturmwinden offenbar über Jahrzehnte hinaus getrotzt hatte. Die Iren, die die Seewölfe und Jean Ribaults Männer in der Kneipe getroffen hatten, hatten verschiedene kernige Dialekt-Bezeichnungen für diesen Treffpunkt von Fischern, Beachcombern und Galgenstricken. Einige von diesen Wörtern schienen fast zärtlich gemeint zu sein, andere wieder waren unzweifelhaft die übelsten Schimpfwörter.
Die Männer der „Isabella“ und der „Vengeur“ hatten etwa bis Mitternacht immer wieder versucht, dieses wilde Kauderwelsch der Iren zu übersetzen. Ein paar von Mutter Natur gut ausgestattete Mädchen hatten sich als Dolmetscherinnen versucht, es hatte eine Menge Spaß gegeben, aber wie die Kneipe hieß, hatten die Seewölfe und „Vengeur“-Männer trotzdem nicht herausgekriegt.
Es gab möglicherweise hundert Dialekte in ganz Irland, vielleicht auch noch mehr, und weder Hasard noch Jean Ribault und Karl von Hutten hatten einen Iren in ihren Crews. Gordon McLinn, der Schotte von der „Vengeur“, konnte da auch nicht weiterhelfen, denn erstens war er kein Schnelldenker, sondern eher das Gegenteil davon, und zweitens bestand zwischen dem schottischen Denken, der schottischen Mentalität, den schottischen Dialekten und dem irischen Denken, Sein, Handeln und Sprechen ein so großer Unterschied wie zwischen den Sitten und Bräuchen der Araber und der Chinesen.
So jedenfalls hatte es der Kutscher in dieser Nacht ausgedrückt, und der Kutscher, der ganz und gar nicht auf den Kopf gefallen war, mußte es ja schließlich wissen.
Reines Englisch sprachen die Iren selbstverständlich nicht, denn das wäre schon schlimmer als eine Nestbeschmutzung gewesen. Wer sein Leben in Irland liebte, der sprach Dialekt.
Dialekt sprachen auch die Mädchen, aber es gab eine Art von Zeitvertreib, bei der es nicht vieler Worte bedurfte, wo man sich auch nur mit Gesten auf Anhieb verstand. Schon als Dolmetscherinnen sehr hilfsbereit, hatten sich die kichernden Ladys nach einem gerüttelt Maß an Bier und Whiskey und gegen gute Bezahlung schließlich auch in anderer Hinsicht als sehr bereitwillig erwiesen.
Im Obergeschoß der Kneipe von Westport gab es ein paar Kammern, die für Hilfsbedürftige und barmherzige Samariterinnen eingerichtet waren und stundenweise vermietet wurden.
Da die Zahl der Dolmetscherinnen begrenzt war, hatte man um deren Gunst feilschen und buhlen müssen, und fast hätte es da noch Streit mit den hitzigen Iren gegeben.
Viele hatten den Anschluß ganz einfach verpaßt und ihren Kummer darüber im Bier und Whiskey ersäuft. Einer von diesen vielen war Eric Winlow, der Koch der „Vengeur“. Seine Muskeln hatten den Schönen zwar mächtig imponiert, aber mit seiner Glatze war weitaus weniger Staat einzulegen, und schließlich hatte Roger Lutz, dieser Weiberheld, ihm glatt den Rang abgelaufen.
Da hatte es auch nichts genutzt, daß Eric seine bratpfannengroßen Fäuste drohend geschüttelt hatte. Roger hatte nur darüber gelacht. Er wußte ganz genau, daß Eric ihm niemals auch nur einen einzigen Hieb verpassen würde.
Mit Grand Couteau, Rogers Freund, hatte Eric sich dann aber doch fast in die Wolle gekriegt. Eingeschnappt hatte sich Winlow an einen Tisch zurückgezogen und noch mehr Bier und Whiskey in sich hineingeschüttet.
Er wäre fast am Tisch eingeschlafen, aber der Wirt hatte die ganze Bande am Ende aus der Schankstube verwiesen. Und da Eric Winlow keine Lust verspürt hatte, an Bord der „Vengeur“ zurückzukehren, hatte er sich seufzend nach einem anderen „Bett“ umgesehen.
Somit wären wir wieder bei dem Heringsfaß, das umgekippt vor der grauen Mauer der namenlose Kneipe lag.
Winlow hatte sich in dem Faß verkrochen, ein schmollender Eremit, voll Weltverachtung, die Hände über dem Bauch gefaltet, die Beine an den Leib gezogen. Das Faß war geräumig genug für seine Körperfülle, und er hatte die Nacht soweit gut verbracht. Erst im Morgengrauen wurde er höchst unsanft geweckt.
Der Sturmwind aus Südwest hatte das Faß beständig gegen das Mauerwerk der Spelunke gedrückt. Plötzlich aber spielte der Wettergott verrückt, vielleicht tanzte er höchstpersönlich um die Stätte des Lasters herum. Ein tückischer Fallwind griff nach dem Faß. Er hatte Kraft genug, es ein Stück von der Hausmauer fortzubewegen – und dieser Schub genügte schon.
Leicht abschüssig war das Kopfsteinpflaster des Kais, der sich vor der Front der Kneipe erstreckte. Das Faß begann zu rollen und gewann immer mehr an Fahrt.
Es näherte