1.
Als der Sturm loswütete, klammerten sich die Kranken an Bord des Viermasters „Gran Grin“ am hölzernen Rand ihrer Kojen fest und kämpften darum, nicht von ihren schmutzigen Lagern gerissen zu werden. Es waren ausgemergelte, totenbleiche Gestalten ohne jegliche Hoffnung in den fiebrigen Augen.
Sie stöhnten und schrien. Sie schrien nach ihren Müttern und Vätern, nach ihren Frauen und Kindern und nach der Heimat, die im Süden auf sie wartete, und sie schämten sich dessen nicht, denn Schnitter Tods Schreckensgestalt hatte neben ihren erbärmlichen Lagern bereits Posten bezogen.
Im Süden, jenseits der Hölle und allen Leidens, lag die iberische Halbinsel, die sie so siegessicher verlassen hatten. Dort sprachen ihre Familien, nach denen sie flehten und um deren Hilfe sie stammelnd baten, vielleicht in diesem Augenblick vom großen Triumph der Armada, denn sie konnten ja nicht wissen, was sich tatsächlich ereignet hatte.
Juan Flores trug einen Kübel mit wäßriger, dampfender Suppe zum Mannschaftslogis im Vordeck der „Gran Grin“, aber er setzte diesen Behälter ab und bekreuzigte sich, ehe er hinter dem Koch Francisco Sampedro, der einen ähnlichen Kupferkessel schleppte, den düsteren, übelriechenden Raum betrat.
Juan Flores stand im schwankenden Schiffsgang. Die Suppe drohte über den Rand des Kübels zu schwappen, aber Juan achtete nicht darauf, und es war ihm völlig egal, ob Tropfen der heißen Flüssigkeit seine nackten Füße trafen.
Er bekreuzigte sich und murmelte: „Santa Maria, Madre de Dios, heilige Mutter Gottes im Himmel, steh uns bei.“
Schwindlig drohte ihm zu werden, aber er fing sich mit verbissener Miene, hievte seinen Kübel wieder hoch und stolperte ins Logis.
Der Kapitän Pedro de Mendoza hatte Juan an diesem Spätnachmittag zum Kombüsendienst einteilen lassen, was in erster Linie bedeutete, die Kranken zu versorgen, und Juan Flores hatte sich fest vorgenommen, seine Arbeit wie ein Mann zu verstehen, trotz aller Widrigkeiten, nicht wie der linkische Moses, den er mit seinen achtzehn Jahren als der Jüngste an Bord eigentlich immer noch darstellte.
Die Geschehnisse hatten vieles verändert in Juan Flores, der all das Erlebte immer noch bildhaft vor Augen hatte, der wußte, daß es sich unauslöschlich in sein Gedächtnis geprägt hatte.
Er wollte ein Mann sein, ein harter Mann, der durch seine Verwegenheit der Hölle entging.
Wenn nur nicht diese Schwächegefühle gewesen wären! Juan fühlte, wie seine Kniegelenke weich wurden, er strauchelte fast und drohte auf den schwankenden Planken im Logis auszugleiten.
Kalter Schweiß brach ihm aus. Die Tropfen bildeten Rinnsale, die über seinen Hals auf seinen Nacken und auf seine Brust flossen, und ihm war kalt, unglaublich kalt.
Juan biß die Zähne zusammen. Er hielt die Balance, setzte den Kübel wieder ab und sah zu dem Koch Francisco Sampedro, der bei dem Feldscher angelangt war.
Der Feldscher der „Gran Grin“ kniete neben dem Lager eines abgemagerten Kranken. Er hatte die grobe Decke der Koje zurückgeschlagen, betrachtete den Brustverband des Mannes und runzelte dabei die Stirn. Das Blut der Wunde hatte den Verband durchtränkt, und – wie Juan Flores durch das Schreien und Stöhnen der anderen und durch das Sturmbrausen hindurch zu vernehmen glaubte – der Kranke röchelte, als müsse er jeden Augenblick den Sprung über die düstere Schwelle antreten.
Juan spürte ein Würgen in der Kehle, Übelkeit, die in ihm aufstieg, aber das war nicht das Schlimmste. Eine frostige Welle durchlief seinen Körper, und es wirbelte vor seinen Augen. Seine Knie drohten nachzugeben, er mußte sich an einem Balken festhalten, um nicht doch umzukippen.
Die Kranken wälzten sich in ihren Kojen, einige hielten Näpfe und Mucks zu Juan hin ausgestreckt. Juan sah Sampedros auffordernden Blick. Der Koch hatte sich zu ihm umgewandt und winkte ihm jetzt zu. Juan wollte beginnen, mit einer Schöpfkelle Wassersuppe in die Näpfe der Kranken zu füllen – auch bei Sturm wurden Mahlzeiten ausgeteilt, sofern man von „Mahlzeiten“ an Bord dieses Unglücksschiffes überhaupt noch sprechen konnte.
Aber Juan stutzte. Der Mann mit dem Brustverband – er hatte ihn erkannt.
„Miguel“, hauchte er entsetzt.
Miguel – ein junger Mann, der aus derselben Gegend wie er, Juan, stammte. Sie hatten während der Überfahrt von Spanien nach England Freundschaft geschlossen. Sie hatten Seite an Seite gearbeitet und gekämpft, und dann war Miguel von einem Eisensplitter getroffen und unter Deck gebracht worden. Tagelang war es Juan wie allen anderen Gesunden verboten gewesen, in das Lazarett hinunterzusteigen. Die Decksleute und Seesoldaten hatten in anderen Räumen des Viermasters ihre Lager aufgeschlagen oder an Oberdeck übernachtet. Erst jetzt kehrte Juan Flores hierher zurück – und fast hätte er den Freund nicht wiedererkannt. Der Blutverlust und das Fieber hatten Miguel geschwächt, aber es war noch mehr hinzugekommen: Skorbut, die Mangelkrankheit, die das Siechtum beschleunigte. Miguels Gesicht hatte sich fast völlig verwandelt, es war eine Fratze des Todes geworden.
„Miguel!“ schrie Juan.
Francisco Sampedro sprang auf. Der Feldscher begann zu fluchen. Sampedro eilte zu Juan hinüber, er hatte begriffen. Er war dagegen gewesen, daß der Junge diesen Dienst versah, aber Befehl war Befehl, und schon der geringste Einwand konnte als Versuch zur Meuterei ausgelegt werden.
Die Deckenbalken des Logis’ wölbten sich Juan entgegen. Die „Gran Grin“, schwer beschädigt, in der aufgewühlten See kaum noch zu manövrieren, krängte von Backbord nach Steuerbord, weil sie unter den verzweifelten Bemühungen des Rudergängers überstag ging und auf den anderen Bug drehte – ein Krachen dröhnte durch das Schiff. Juan fiel, rutschte ein Stück auf dem abschüssig werdenden Deck und prallte gegen einen Kojenpfosten.
Die Kübel stürzten um, die heiße Wassersuppe ergoß sich auf die Planken. Die Kranken schrien nicht mehr, sie heulten gegen das Sturmtosen an und ließen ihrer Verzweiflung freien Lauf. Der Verlust der Nahrung trieb sie an den Rand des Wahnsinns. Fluchend lief der Feldscher zu einem wild gestikulierenden Mann hinüber und versuchte, ihn zu besänftigen, während Sampedro, der Koch, sich voll Mitleid über Juan Flores beugte.
„Mir ist schlecht“, keuchte Juan. „Aber das geht gleich vorbei.“
„Du hast ja Fieber“, stellte der Koch entsetzt fest.
„Ich habe kein Fieber …“
„Ich werde dir etwas zu trinken geben, das hilft dir. Ich habe nur noch ein paar Tropfen davon, aber sie stärken deinen inneren Widerstand, glaub es mir“, sagte Sampedro.
Widerstand? Männliche Kühnheit nach einer Schlacht wie dieser, die die Armada zerrieben, fast ganz vernichtet hatte? Plötzlich erschien es Juan absurd, noch länger den Hartgesottenen zu markieren. Es hatte ja doch alles keinen Zweck mehr.
Die Gefechte – eine Reihe von furchtbaren, erniedrigenden Kämpfen, eine Niederlage nach der anderen. Das Ende der glorreichen, „unüberwindlichen“ Armada, der Untergang einer Idee …
Juans Vertrauen in die Macht seines Landes war mit jedem Schiff, das unter dem Beschuß der Engländer