Aber dennoch entdeckten sie nichts. Keine Spur von der kleinen Jolle oder von Hasard und seinen Mannen.
Nach vorn hatte nur die Besatzung der großen Jolle den Blick einigermaßen frei. Sie hockten unter einer gewaltigen Dunstglocke, die fast schon das Atmen erschwerte.
Nils Larsen sang noch immer die Tiefe aus, sonst waren die Arwenacks recht schweigsam geworden und holten rein mechanisch die Riemen durch.
Da stieß Jack Finnegan plötzlich einen lauten Ruf aus: „Achtung! Was ist denn das? Zum Teufel, bin ich übergeschnappt?“ Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können.
„Was ist los?“ fragte Matt Davies.
„Na dort, Steuerbord voraus!“ antwortete Jack. „Siehst du nicht die Gestalt dort im Schilf?“
Matt Davies schwieg einen Augenblick, dann rief er: „Verdammt, du hast recht, Jack! Die Figur sieht ja aus wie eine Vogelscheuche. Warum hüpft und fuchtelt sie so?“
„Frag mich was Leichteres“, sagte Jack Finnegan.
Die übrigen Männer waren längst hellhörig geworden und sahen jetzt ebenfalls die Bewegungen einer halb vom Nebel verdeckten Gestalt, die nach wenigen Augenblicken im Schilf verschwand.
„War das überhaupt ein Mensch?“ fragte Paddy Rogers, einer der wenigen, die sich die Existenz von Gespenstern nicht ausreden ließen. Er hob seine Knollennase, als könne er die Witterung der Erscheinung aufnehmen. „Hier scheint aber auch gar nichts mehr mit rechten Dingen zuzugehen“, fuhr er fort. „Überall im Sumpf hocken Geister und Dämonen.“
„Das war kein Dämon!“ ließ sich Jan Ranse vernehmen.
„Was denn sonst?“ fragte Paddy schnippisch.
Jan grinste unverschämt. „Stell dir vor, es könnte ausnahmsweise doch mal ein Mensch gewesen sein. Noch soll es ja einige davon auf dieser buckligen Welt geben. Oder übersteigt das dein geistiges Fassungsvermögen?“
„Tut es nicht!“ erklärte Paddy. „Aber was soll wohl ein Mensch zu dieser Tageszeit da drüben im Schilf, he?“
„Das weiß ich auch nicht“, erwiderte Jan Ranse. „Vielleicht hatte er ein dringendes Geschäft zu erledigen und hat sich deshalb ein passendes Plätzchen im Rohrdickicht gesucht. Seinem Herumhüpfen nach zu urteilen, muß die Sache schon recht eilig gewesen sein.“
Paddy winkte naserümpfend ab.
„Pah, du wirst schon noch kapieren, daß es kein Mensch gewesen ist.“ Er pullte schweigsam weiter, völlig von der Richtigkeit seines Standpunktes überzeugt.
Jetzt ließ sich Ferris Tucker von der achteren Ducht her vernehmen.
„Hört auf, euch Fransen an die Mäuler zu reden“, sagte er derb. „Man meint ja, hier wäre das Geisterfieber ausgebrochen. Mir ist wurschtegal, wer da im Sumpf herumstrolcht. Wir werden uns den Kerl schnappen, dann erfahren wir vielleicht etwas über den Verbleib unserer Kameraden.“
Der Schiffszimmermann preite die „Isabella“ an und gab ihr die vereinbarten Zeichen zum Beidrehen. Zur selben Zeit schob sich die große Jolle auf das Ufer zu und steuerte genau jene Stelle an, an der die seltsame Gestalt zu sehen gewesen war.
Ferris, Nils, Blacky und Matt gingen mit Musketen bewaffnet an Land, um nach dem merkwürdigen Kerl zu suchen.
4.
Die Morgenluft war feucht und kühl, die Sichtverhältnisse besserten sich im aufsteigenden Nebel nur langsam.
Für die kleine Armada, die sich vom Lake Borgne her näherte, war das jedoch kein Hindernis. Die Besatzungen der fünf einmastigen Schaluppen und der zwei ebenfalls einmastigen Pinassen kannten die Gegend wie ihre Hosentaschen, denn sie waren als Marodeure auf die Küsten Floridas spezialisiert.
Ihr Anführer hieß Duvalier.
Er war Franzose, von schlanker Statur und hatte ein schmales Gesicht. Seine langen, strähnigen Haare, die bis auf die Schultern fielen, wurden teilweise von einem breitrandigen Schlapphut bedeckt. Der ungepflegte Bart, der seine Oberlippe zierte, zog sich in steilen Winkeln nach unten, seine Augen wirkten schmal und verkniffen.
Duvalier war ein Schnapphahn übelster Sorte – mißtrauisch gegen jedermann, hinterhältig, verschlagen, grausam, brutal und habgierig. Aber die meisten der mehr als fünfzig Galgenstricke, die sich an Bord der sieben Einmaster befanden, standen ihm in nichts nach. Der Teufel selber schien diesen wüsten, verkommenen Haufen ausgespuckt zu haben.
Der Lake Borgne, der dem Lake Pontchartrain im Osten vorgelagert ist und im Grunde nichts anderes als eine weitläufige Meeresbucht darstellt, gehörte zu jenen Gegenden, denen Duvalier von Zeit zu Zeit einen Besuch abstattete.
Diesmal waren die Schlagetots jedoch nicht beim routinemäßigen „Abklappern“ der Küste, sondern beim Aufspüren jener beiden Galeonen namens „Isabella“ und „San Donato“, von denen die spanischen Deserteure, die ihnen in die Hände gefallen waren, gesprochen hatten.
Eigentlich war Duvalier mit den Prisen der vergangenen Tagen recht zufrieden. So viele fette Brocken gab es in dieser Gegend nicht oft. Die dicksten Brocken aber würde er sich erst holen, wenn er die beiden Schiffe gefunden hatte.
Die fünf Spanier, die von der wracken „Santa Teresa“ desertiert waren, hatten die Galeonen genau beschrieben. Nach einer hartnäckigen Verfolgung durch sie und ihre Landsleute hatten sich die beiden Segler höchstwahrscheinlich in den Lake Borgne oder den Lake Pontchartrain verholt, um dort das Ende des Sturms abzuwarten. Von Nutzen war den Spaniern diese bereitwillige Auskunft jedoch nicht gewesen. Duvalier war nicht davor zurückgeschreckt, sie samt und sonders über die Klinge springen zu lassen, nachdem er sie ihrer Waffen und Kleidung beraubt hatte.
Danach aber hatte er mit seinen verluderten Kerlen die auf ein Riff aufgelaufene „Santa Teresa“ angegriffen und von den Masttoppen bis zum Kielschwein ausgeplündert. Die drei Überlebenden des erbitterten Enterkampfes – Don José Isidoro und zwei seiner Offiziere – hatte er mitsamt der Beute zu seinem Schlupfwinkel auf der Insel Comfort bringen lassen. Irgendwie, so hoffte der Piratenführer, würde sich mit diesen drei vornehmen Herren ein ordentliches Lösegeld erpressen lassen.
Jetzt aber waren die beiden Galeonen an der Reihe, von denen eine unter englischer Flagge fuhr. Duvalier war fest davon überzeugt, daß er die beiden Schiffe finden würde. Und nichts war seiner Meinung nach einfacher, als die Besatzungen im frühen Morgengrauen zu überrumpeln.
Der Oberschnapphahn hatte seine Lippen zu schmalen Strichen zusammengepreßt. Immer wieder hob er ein Spektiv an die Augen. Aber auch mit dem Fernrohr waren die letzten dichten Nebelschwaden nur schwer zu durchdringen.
Im Lake Borgne befanden sich die beiden Segler nicht, soviel hatte er bereits feststellen können. Demnach mußten sie bereits in den Lake Pontchartrain eingelaufen sein.
„Meinst du wirklich, daß sich die Kerle in diesen Tümpel verholt haben?“ fragte der hagere Bursche, der an der Pinne der als „Flaggschiff“ dienenden Schaluppe auf Station war.
„Ich kann mir nicht vorstellen, daß uns die Dons belogen haben“, erwiderte Duvalier. „Dazu hatten sie viel zuviel Schiß. Bis jetzt hat noch jeder die Wahrheit gesagt, wenn er von uns ordentlich durch die Mangel gedreht wurde. Und wenn die Galeonen im Lake Pontchartrain einen sturmgeschützten Platz gefunden haben, befinden sie sich mit Sicherheit noch dort. Bei dem dichten Nebel in der vergangenen Nacht hätten sie das Auslaufen nicht riskieren können.“
Der Mann an der Ruderpinne gab sich mit dieser Antwort zufrieden. Nur der kleine, schmuddelige Kerl, der faul am Mast herumlungerte, bemerkte wichtigtuerisch: