Die Rote Korsarin sah den Schlangengott an. Wieder fiel ihr auf, wie sehr die überlebensgroße Frauenstatue, um die sich die goldene Schlange ringelte, Arkana glich. Zufall – oder handelte es sich bei den Schlangenpriesterinnen der Araukaner um eine Art Dynastie, deren Abkömmlinge immer wieder aus den gleichen Familien hervorgingen? Aber Siri-Tong verwarf diese Überlegung sofort wieder, denn wie hätte dann die Vaterschaft des Seewolfs über Araua in dieses Bild gepaßt? Nein, wahrscheinlicher war, der Schlangengott suchte die Erzeuger der künftigen Hohepriesterinnen immer wieder selber aus …
Die Rote Korsarin schüttelte unwillig den Kopf, denn sie begriff, daß sich ihre Überlegungen an diesem Punkt im Kreise drehten. Aber dann blieb ihr zu weiteren Überlegungen auch keine Zeit mehr.
Araua hatte das heilige Feuer entzündet, und das Gewölbe, in dessen Felsen überall kostbare Edelsteine eingelassen waren, die nun wie tausend Augen im Schein der tanzenden Flammen zu glitzern begannen, wurde von einem betäubenden Duft erfüllt. Siri-Tong spürte, wie ihre Sinne von irgend etwas Unbekanntem umfangen wurden, wie die Umgebung vor ihren Augen verschwamm. Bilder aus längst vergangenen Zeiten stiegen vor ihrem geistigen Auge auf, und nur im Unterbewußtsein gewahrte sie Araua, die inmitten des Flammenkreises kniete, die Arme dem Schlangengott entgegengestreckt.
Wie unter einem hypnotischen Zwang wandte auch die Rote Korsarin dem Schlangengott ihre Blicke zu – und wieder geschah das, was sie auch schon mit dem Seewolf zusammen erlebt hatte: Die Augen des Schlangengottes glühten sie an. Siri-Tong spürte, wie sie von dieser grünlichen Helligkeit, von diesem gespenstischen Leuchten umfangen wurde. Und dann befand sie sich plötzlich wieder auf der Insel Mocha, jener Insel vor der Westküste Südamerikas, auf der der Seewolf und Arkana sich dereinst vor siebzehn Jahren begegnet waren. Sie sah sich zusammen mit Arkana und Araua durch die Felsen der Insel steigen. Immer höher ins Gebirge hinauf, bis schließlich tief unter ihr das heilige Tal der Araukaner lag.
Aber die Insel schien ohne menschliches Leben zu sein. Keine Araukaner lebten mehr dort, statt dessen segelte ein Geschwader spanischer Galeonen von der Seeseite auf die Insel zu. Merkwürdigerweise erschien in diesem Moment auch der Schwarze Segler des Wikingers – aber wo befand sich der Seewolf?
Verschwommen erschien Siri-Tong auch sein Bild, aber seine „Isabella IX.“ wirkte wie ein Geisterschiff, das irgendwo zwischen den Wogen und am Himmel entlangjagenden Wolken dahinglitt …
Dann begann der Abstieg ins Tal – und schließlich stand die Rote Korsarin mit Arkana und Araua vor einer riesigen Statue. Unzweifelhaft stellte sie wiederum den Schlangengott dar, aber weitaus prächtiger, kostbarer und noch viel beeindruckender als die, die sich im Tempel der Schlangeninsel befand.
Die Rote Korsarin spürte, wie sie erschauerte. Sie versuchte, sich aus dem Netz jener unsichtbaren Fäden zu befreien, die sie schon wie ein Kokon umgaben und die sich auf geheimnisvolle Weise immer dichter und dichter zu weben schienen.
Aber es war vergeblich – ihre Kräfte reichten nicht aus. Weiter und weiter versank sie in diese gespenstische Welt jenes riesigen Tempels auf der Mocha-Insel. Sie erblickte Arkana und den Seewolf, sie sah, wie Araua aus den Flammen des heiligen Feuers, das auch diese Statue wie ein lodernder Kranz umgab, gleich einem Lichtwesen emporzusteigen schien.
„Was du dort siehst, Siri-Tong, ist Vergangenheit für dich, aber es ist Gegenwart für mich, denn Vergangenheit und Gegenwart sind für mich eins. Dieser Tempel, in dem du dich jetzt befindest, ist in Gefahr. Die Spanier haben von seiner Existenz erfahren, und sie beabsichtigen ihn zu schänden und zu berauben. Darum habe ich dich, Arkana, meine Hohepriesterin, und Araua dazu bestimmt, jenes Bildnis von mir, das aber zugleich mich, den Schlangengott, beherbergt wie das Bildnis in diesem Tempel auch, von der Mocha-Insel zu holen und hierher zu schaffen. Es wird in einem Gewölbe Platz finden, das bisher keiner von euch kennt, das tief im Innern dieser Insel verborgen liegt und zu dem ihr den Zugang nur durch mich finden werdet, wenn es an der Zeit ist. Dieses Gewölbe, in dem ihr mein Bildnis von der Mocha-Insel aufstellen werdet, wird euch allen dereinst das Leben retten.“
Der Schlangengott schwieg, aber Siri-Tong spürte, daß er noch nicht zu Ende gesprochen hatte. So wartete sie, und es war der unwirklichste, der unheimlichste Moment, den sie je in ihrem Leben erlebt hatte. Tausend Bilder stürzten durch ihr Bewußtsein, und sie zeigten offenbar Ereignisse, die noch weit in der Zukunft lagen. Düstere wie helle.
Dann vernahm sie die Stimme des Schlangengottes aufs neue.
„Ich werde euch ein Zeichen senden, wenn es an der Zeit sein wird, zur Mocha-Insel zu reisen. Wirst du meiner Bitte entsprechen, Siri-Tong, denn ich habe keine Gewalt über dich, auch wenn ich dich und alle deine Freunde zu schützen vermag?“
Die Rote Korsarin wandte sich langsam um, und sie blickte in die großen, dunklen Augen Arauas. Da nickte sie dem Schlangengott zu.
„Ich werde zur Mocha-Insel segeln, wenn du es mir aufträgst“, antwortete sie, und sie wußte nicht, ob sie diese Worte gesprochen oder lediglich gedacht hatte. Aber der Schlangengott hatte verstanden, das spürte sie sofort.
„Aber ich habe noch eine Frage an dich“, fuhr sie fort, und sofort begannen die Augen in dem Schlangenkopf, die sie aber von überall im Gewölbe des Tempels anzublicken schienen, wieder zu glühen.
„Frage!“ vernahm sie seine Aufforderung.
„Warum beauftragst du nicht den Seewolf an meiner Stelle? Er hat Araua gezeugt …“
„Er wird ebenfalls mit euch zur Mocha-Insel segeln, aber er wird sich in großer Gefahr befinden. Und nur wenn es euch gelingt, mein Bildnis vor den Spaniern zu retten, wird auch er zu retten sein. Dies alles ist unabänderlich, aber ich werde euch helfen. Und jetzt segelt, wie ich Araua angewiesen habe, denn Arkana und meine Schlangenkriegerinnen befinden sich in großer Gefahr. Und auch ihr müßt auf der Hut sein. Alles, was du unternimmst, um sie zu befreien, mußt du sehr genau überdenken. Man wird euch eine Falle stellen, die tödlich sein kann …“
Die Augen des Schlangengottes erloschen, so wie der Kranz des heiligen Feuers plötzlich in sich zusammensackte.
Nach und nach erwachte Siri-Tong aus ihrem tranceähnlichen Zustand. Die grünliche Helligkeit, die ihr Inneres erfüllte und der feingesponnene Kokon, der sie umgab, lösten sich auf. Die Rote Korsarin kehrte in die Wirklichkeit zurück – aber alles, was sie erlebt und gesehen hatte, blieb in ihrer Erinnerung bestehen.
Langsam wandte sie sich Araua zu, die auch aus ihrer Trance erwacht war.
„Araua – was war das? Wieso hat der Schlangengott gerade zu mir gesprochen, wieso …“
Die Rote Korsarin schüttelte den Kopf. Was war das alles? Traum – Wirklichkeit? Aus dem Reich des Großen Chan, wo sie geboren worden war, wußte Siri-Tong, daß es mächtige Götter gab, auch wenn die unwissenden Menschen jenseits der Meere das nicht wahrhaben wollten. Dennoch war dieses Erlebnis unheimlich, und sie wußte, daß sie noch eine ganze Weile brauchen würde, um damit innerlich fertig zu werden.
Araua hatte sich an sie geschmiegt, so, wie sie es oft als kleines Mädchen getan hatte.
„Jetzt weißt du, Siri-Tong, daß es unseren Schlangengott gibt! Vergiß es nie, wir werden nur solange auf der Schlangeninsel unseren Frieden und unser Glück finden, wie er bei uns wohnt. Und eines Tages, Siri-Tong, werde ich seine Hohepriesterin sein – aber ich fürchte mich vor diesem Tag …“
Siri-Tong fuhr Araua durchs schwarze Haar.
„Komm jetzt“, sagte sie dann leise. „Wir wollen jetzt tun, was der Schlangengott uns aufgetragen hat. Deine Mutter befindet sich mit allen ihren Kriegerinnen in Gefahr, beeilen wir uns!“
Sie zog Araua mit sich empor, und dann verließen die beiden Frauen das Gewölbe des Schlangentempels. Die Statue des Schlangengottes aber stand dort, scheinbar ohne jedes Leben. Doch Siri-Tong wußte es besser.
Am späten Nachmittag dieses Tages verließen zwei Schiffe die Schlangeninsel. Der Viermaster „Roter Drache“ und eine große, seetüchtige Schaluppe. An Bord der Schaluppe befanden sich Karl von Hutten und ein