Edward Tolman
Tolman bezweifelte, dass das menschliche Verhalten einfach als automatische Reaktion auf einen Reiz erlernt wird. Er glaubte, dass Tiere in ihrer jeweiligen Umwelt auch ohne verstärkende Belohnung Lernerfahrungen machen, die sie für spätere Entscheidungen nutzen können. An Ratten, für die er Labyrinthe konstruierte, untersuchte er mithilfe verschiedener Versuchsanordnungen die Rolle der Verstärkung beim Lernen. Dazu verglich er drei Gruppen von Ratten. Die eine Gruppe wurde täglich mit Futter belohnt, wenn die Ratten ihren Weg durch das Labyrinth fanden. Dagegen wurde die zweite Gruppe erst nach sechs Tagen belohnt und die dritte nach zwei Tagen.
Tolman fand seine Hypothesen bestätigt. Die Ratten aus der zweiten und dritten Gruppe machten am Tag nach ihrer Belohnung weniger Fehler, wenn sie durch das Labyrinth liefen. Sie »kannten« ihren Weg also bereits und hatten ihn gelernt. Als sie dann eine Belohnung bekamen, konnten sie sich die »kognitive Landkarte« zunutze machen, die entstanden war, um schneller durch das Labyrinth zu gelangen.
Latentes Lernen
Tolman nannte die erste Lernphase, in der die Tiere noch nicht belohnt wurden, als »latentes Lernen«. Er glaubte, dass Tiere und Menschen kognitive Landkarten von ihrer Umwelt – dem »gottgegebenen Labyrinth« – anfertigen und nutzen, um Ziele zu finden. Als Beispiel nannte er das Phänomen, dass wir z. B. Orientierungspunkte auf unseren täglichen Wegen »lernen«, aber uns dessen erst bewusst werden, wenn wir ein bestimmtes Ziel suchen. In Purposive Behavior in Animals and Men erläuterte Tolman seine Theorien, verknüpfte behavioristische Methoden mit gestaltpsychologischen Gesichtspunkten und führte das Element der Kognition in den Behaviorismus ein.
Eine kognitive Landkarte unserer Umgebung entsteht im Alltag oft, ohne dass wir uns dessen bewusst wären – bis wir etwas suchen, was uns zuvor nicht aufgefallen ist.
Edward Tolman
Edward Chace Tolman wuchs in einer wohlhabenden Familie in West Newton, Massachusetts, auf. Er studierte am Massachusetts Institute of Technology (MIT) Elektrochemie und legte 1911 sein Examen ab. Dann entschied er sich aber für ein Studium der Philosophie und Psychologie in Harvard. Bei einem Studienaufenthalt in Deutschland lernte er die Gestaltpsychologie kennen.
Nach seiner Promotion lehrte er an der Northwestern University, bis seine pazifistischen Ansichten ihn die Stelle kosteten. Er wechselte an die Universität von Berkeley, wo er seine Experimente mit Ratten durchführte. In der McCarthy-Ära drohte ihm erneut die Entlassung, weil er sich weigerte, den geforderten Loyalitätseid zu leisten. Die Entscheidung wurde 1955 aufgehoben. Tolman starb mit 73 Jahren in Berkeley.
Hauptwerke
1932 Purposive Behavior in Animals and Men
1942 Drives Toward War
1948 Cognitive Maps in Rats and Men
HAT EINE RATTE ERST UNSEREN GETREIDESACK ENTDECKT, KÖNNEN WIR AUF IHRE RÜCKKEHR ZÄHLEN
EDWIN GUTHRIE (1886–1959)
IM KONTEXT
ANSATZ
Lerntheorie
FRÜHER
1890er-Jahre Iwan Pawlow demonstriert »klassisches Konditionieren« an Hunden.
1890er-Jahre Edward Thorndike entwirft »Problemkäfige« für Experimente mit Katzen.
1920er-Jahre Edward Tolman hinterfragt die Rolle der Verstärkung bei der Konditionierung.
SPÄTER
1938 B. F. Skinner präsentiert sein Konzept des »operanten Konditionierens«.
1940er-Jahre Jean Piaget behauptet, dass Kinder eine natürliche Neigung haben, ihre Umwelt zu erforschen und sich Wissen anzueignen.
1977 Albert Bandura schreibt in Sozial-kognitive Lerntheorie, dass Verhalten durch Beobachten und Nachahmen des Verhaltens anderer erlernt wird.
Als sich der amerikanische Philosoph Edwin Guthrie in den 1920er-Jahren der Psychologie zuwandte, basierten praktisch alle behavioristischen Theorien auf dem aus Pawlows Konzept des »klassischen Konditionierens« abgeleiteten Reiz-Reaktions-Modell des Lernens. Demnach lassen sich Reaktionen (z. B. die Speichelsekretion) hervorrufen, indem man Lebewesen wiederholt bestimmten Kombinationen von Reizen aussetzt (z. B. Futter plus Glockenton). In diesem Beispiel löste am Ende allein der Glockenton die entsprechende Reaktion aus.
Guthrie bezweifelte aber, dass erfolgreiches Konditionieren der Verstärkung bedurfte. Er glaubte, dass schon beim ersten Mal, wenn Reiz und Reaktion zusammen auftreten, eine Verbindung entsteht. Seine Theorie des »One-trial«-Lernens (auch »Ein-Schuss-Theorie«) basierte auf Versuchen mit Katzen, die in Problemkäfige eingesperrt waren: Sobald die Katzen den Fluchtmechanismus durchschaut hatten, assoziierten sie ihre Flucht mit der Bewegung, die die Tür geöffnet hatte.
Guthrie entwickelte daraus die »Theorie der Kontiguität«: »Eine Kombination von Reizen, die mit einer Bewegung einhergeht, zieht bei erneutem Auftreten meist genau diese Bewegung nach sich.« Bewegungen werden durch Reiz-Reaktions-Verknüpfungen erlernt, aus miteinander verbundenen Bewegungen wird Handlung. Wiederholung verstärkt nicht die Verknüpfung, sondern begründet weitere Handlungen, die sich wiederum zu Verhalten verbinden.
»Wir erwarten, dass ein einziger Streit Einstellungen verändert.«
Edwin Guthrie
NICHTS IST NATÜRLICHER FÜR DIE KATZE, ALS DIE RATTE ZU »LIEBEN«
ZING-YANG KUO (1898–1970)
IM KONTEXT
ANSATZ
Verhaltensforschung
FRÜHER
1874 Francis Galton eröffnet in English Men of Science: Their Nature and Nurture die Anlage-Umwelt-Kontroverse.
1924 John B. Watson stellt seine berühmte These auf, jeder Mensch könne unabhängig von seinen Anlagen alles werden.
SPÄTER
1938 B. F. Skinner stellt in The Behavior of Organisms seine radikalbehavioristischen Ideen dar und behauptet, die Umstände, nicht der Instinkt bestimme das Verhalten.
1942 Edward Tolman untersucht in Drives Toward War, ob Aggression konditioniert oder instinktiv