Für Watson war ein Kind eine Tabula rasa. Er war überzeugt, dass man jedes Kind ungeachtet seiner Begabungen und Anlagen mit behavioristischen Methoden zu jeder Art von Spezialist erziehen konnte.
Er beließ es z. B. nicht bei der Feststellung, Gefühlsreaktionen seien konditionierbar, sondern behauptete, nach demselben Prinzip sei es möglich, nahezu jeden Aspekt des menschlichen Verhaltens, gleichgültig, wie komplex er sei, zu kontrollieren und zu modifizieren. In seinem 1924 erschienenen Buch Behaviorism (Der Behaviorismus, dt. 1930) prahlte er gar: »Gebt mir ein Dutzend gesunder, wohlgebildeter Kinder und meine eigene Umwelt, in der ich sie erziehe, und ich garantiere, dass ich jedes nach dem Zufall auswähle und es zu einem Spezialisten in irgendeinem Beruf erziehe, zum Arzt, Richter, Künstler, Kaufmann oder zum Bettler und Dieb, ohne Rücksicht auf seine Begabungen, Neigungen, Fähigkeiten, Anlagen und die Herkunft seiner Vorfahren.« In der »Nature-Nurture«-Debatte, die um die Frage kreiste, ob eher die Anlagen eines Menschen oder seine Umwelt beziehungsweise kulturelle Sozialisation entscheidend seien, entschied sich Watson klar für die Umwelt.
Emotionsfreie Erziehung
Weil Watson nun nicht weiter an der Universität forschen konnte, verlegte er sich auf das Thema Kindererziehung. Wie zu erwarten, propagierte er auch dabei einen streng behavioristischen Ansatz. Seine Erziehungsbücher waren in den 1920er- und 1930er-Jahren ungeheuer populär. Rückblickend ist es leicht, zu dem Schluss zu kommen, dass sein Ansatz, der auf extremer emotionaler Distanz zwischen Eltern und Kind beruhte, falsch, ja gefährlich war, aber damals übernahmen Millionen von Eltern diese Methoden – einschließlich John B. Watson und Rosalie Rayner selbst.
»Der Watsonismus ist in den Kinderzimmern und Salons Amerikas zum Evangelium und Katechismus geworden.«
Mortimer Adler
Ein Kind, so glaubte Watson, wird von seiner Umwelt geformt. Und diese Umwelt wird von den Eltern kontrolliert. Im Kern betrachtete er Kindererziehung als eine Übung der Verhaltensmodifikation, insbesondere wenn es um Gefühle wie Furcht, Zorn und Liebe ging. Watson, der selbst eine unglückliche Kindheit gehabt hatte – was seine Ansichten vielleicht verständlicher macht –, tat Zuneigung als sentimental ab. Sie führe zu übergroßer Abhängigkeit des Kindes von den Eltern. Doch er wandte sich auch gegen das andere Extrem und war ein erklärter Gegner körperlicher Züchtigung.
Seine Übertragung der Reiz-Reaktions-Konditionierung auf die Kindererziehung rief schließlich auch Kritiker auf den Plan. Spätere Generationen betrachteten seine pädagogischen Ansätze als manipulativ und lieblos. Die Langzeitschäden bei den Kindern, die nach Watsons behavioristischem Modell erzogen worden waren, traten erst nach und nach zutage und erwiesen sich als erheblich – selbst in Watsons eigener Familie. Rosalie erkannte schließlich die Mängel in den Erziehungstheorien ihres Mannes und verfasste einen kritischen Aufsatz für das Parents’ Magazine mit dem Titel I Am the Mother of a Behaviorist’s Sons (»Ich bin die Mutter der Söhne eines Behavioristen«). Watsons Enkelin, die Schauspielerin Mariette Hartley, gab in ihrer Autobiografie Breaking the Silence eine Schilderung ihrer zerrütteten Familie.
Alternative Theorien zur Kindererziehung ließen selbst unter erklärten Behavioristen nicht lange auf sich warten. So wandte der Psychologe B. F. Skinner, der zwar Watsons Grundprinzip der Konditionierung akzeptierte und als Ausgangspunkt für seinen eigenen »radikalen Behaviorismus« nutzte, seine Erkenntnisse auf eine wesentlich heilsamere – wenngleich exzentrische – Weise auf das Gebiet der Kindererziehung an.
Watson nutzte sein Wissen über das menschliche Verhalten auch in der Werbebranche. Er zeigte, dass sich Menschen durch das bloße Image eines Produkts zum Kauf motivieren lassen.
John B. Watson
John Broadus Watson wuchs in armen Verhältnissen in South Carolina auf. Sein Vater war ein Trinker und Schürzenjäger, der die Familie verließ, als John 13 Jahre alt war, die Mutter war sehr religiös. Watson war ein rebellischer, aggressiver Teenager, aber auch ein brillanter Nachwuchswissenschaftler. Schon mit 16 Jahren besuchte er die nahe gelegene Furman University. Nach seiner Promotion in Chicago wurde er Professor an der Johns Hopkins University. Im Ersten Weltkrieg arbeitete er kurzzeitig für die Armee, kehrte dann aber an die Johns Hopkins University zurück. Nach einer Affäre mit seiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Rosalie Rayner wurde er entlassen. Er wechselte in die Werbebranche und publizierte weiter. Als Rayner mit 37 Jahren starb, zog Watson sich aus der Öffentlichkeit zurück.
Hauptwerke
1913 Psychologie, wie sie der Behaviorist sieht
1920 Conditioned Emotional Reactions (mit Rosalie Rayner)
1924 Der Behaviorismus
DIESES GROSSE, GOTTGEGEBENE LABYRINTH, DAS UNSERE WELT IST
EDWARD TOLMAN (1886–1959)
IM KONTEXT
ANSATZ
Kognitiver Behaviorismus (Purposivismus)
FRÜHER
1890er-Jahre Iwan Pawlows Versuche an Hunden liefern die Grundlage einer Theorie des klassischen Konditionierens.
1920 John B. Watson führt Experimente mit Menschen durch, insbesondere mit dem »kleinen Albert«.
SPÄTER
1938 Für seine Versuche zum »operanten Konditionieren« setzt B. F. Skinner Tauben statt Ratten ein und verfeinert die Versuchsanordnung.
1950er-Jahre Die kognitive Psychologie löst den Behaviorismus als dominante Strömung der Psychologie ab.
1980er-Jahre Joseph Wolpes Verhaltenstherapie und Aaron Becks kognitive Therapie verschmelzen zur kognitivbehavioralen Therapie.
Obwohl er als einer der führenden amerikanischen Behavioristen galt, wählte Edward Tolman einen anderen Zugang als Thorndike und Watson. Er stimmte zwar dem methodischen Grundsatz des Behaviorismus zu, dass psychologische Forschung nur mithilfe objektiver wissenschaftlicher Experimente möglich sei. Aber er war ebenso an Bewusstseinsprozessen wie Wahrnehmung, Denken und Motivation interessiert, seit er in Deutschland die Gestaltpsychologie kennengelernt hatte. Indem er eine Brücke zwischen den beiden Ansätzen schlug, entwickelte er auch neue Ideen in Bezug auf die Rolle der Konditionierung und eine Theorie des zielorientierten Verhaltens (»purposive behaviorism«), die heute als »kognitiver Behaviorismus« bezeichnet wird.
»Es