Kein Traum, dachte Blake entsetzt, bittere Wahrheit.
Der Schweiß verklebte ihm die Augen, und so sah er alles wie durch einen Nebelschleier.
Auf den Planken der Kuhl standen der Kapitän, der Seemann Fisher und Reverend Thornton, der leise murmelte. Dann hoben sie zu dritt eine Gestalt auf, schoben sie über das Schanzkleid und ließen sie ins Meer gleiten.
Beim Aufklatschen des Körpers war Blake hellwach.
„Wer – wer war das?“ stammelte er.
Der Kapitän, bärtig, hohlwangig, sah ihn aus tief in den Höhlen liegenden Augen lange an.
„Endicot“, sagte er schwer. „Endicot war es.“
„Aber Endicot war doch gestern noch – noch gesund.“
„Gesund? Gestern? Wann war gestern, Mann? Er lag sicher schon zwei Tage tot in seiner Koje. Gehen Sie nach unten, Blake, legen Sie sich hin!“
Blake schüttelte eigensinnig den Kopf.
„Ich will nicht nach unten, Sir, da unten verreckt man nur. Ich will lieber an Deck krepieren. Darf ich einen Schluck Wasser haben, Sir?“
Endicots Tod hatte ihn aufgewühlt, er spürte, wie er am ganzen Körper zitterte. Himmel, was war bloß mit ihm los? Er hatte Endicot doch noch gesund gesehen, oder war er selber schon verrückt?
„Heute abend“, sagte der Kapitän, „heute abend gibt es einen Schluck Wasser, jetzt nicht.“
Blake starrte auf die Stelle im Wasser, wo die Leiche verschwunden war. Ab und zu perlte es dort, winzige kleine Bläschen stiegen auf und zerplatzten, wenn sie die Oberfläche erreichten.
Er wollte sich abwenden, doch in seinem Magen krampfte sich etwas zusammen, ihm wurde speiübel, und mit einem leisen Schrei erbrach er sich, bis es seinen Magen umkrempelte. Er zuckte und bebte, und sein Hals brannte wie Feuer.
Danach ließ er sich erschöpft an Deck sinken. Ihn wunderte nicht einmal die Gleichgültigkeit des Kapitäns, der ihn nur stumm ansah, die Schultern hob und davonging.
Alle waren sie gleichgültig und apathisch geworden, gleichgültig gegenüber den Kameraden, apathisch gegen alles, was um sie herum passierte.
Nur der Haß gegen Thornton war noch da. Sie alle haßten ihn, sie vertrugen seine scheinheiligen Sprüche nicht mehr, aber niemand brachte die Kraft auf, ihn zu verprügeln oder ihn einfach über Bord zu schmeißen, wie es ihnen in Gedanken vorschwebte.
Dabei hatte alles so verheißungsvoll begonnen.
Im Juli 1584 waren sie im Verband mit zwei anderen Schiffen von England ausgelaufen. Drei Kauffahrer mit dem inoffiziellen Auftrag, spanische Goldschiffe aufzubringen, dem brutalen Geschäft der Spanier etwas Einhalt zu gebieten, Handelsniederlassungen zu gründen und neue Inseln zu entdecken, diesmal auf dem Seeweg um Afrika herum.
Das erste Schiff hatten sie bei der Rundung um den großen Kontinent in einem Sturm verloren. Die See hatte das Schiff voller Wut zertrümmert und nur zwei Leute am Leben gelassen.
Einen Seemann und Reverend Thornton, den sie selbst an Bord genommen hatten, der jetzt dick, fett und behäbig herumstand und allen ein Dorn im Auge war.
Das zweite Schiff war schon vor Monaten spurlos verschwunden. Sie hatten nie wieder etwas von ihm gehört, es blieb verschollen.
Die „Black Pearl“ war noch übrig, mit einer Mannschaft, die vom Tod gezeichnet war, die dahinsiechte und starb, seit sie sich in diesem verdammten Meer ohne Ende befanden.
Es hatte Aufstände an Bord gegeben, Schlägereien. Die Männer waren mit den Messern aufeinander losgegangen, als der Proviant und das Wasser rigoros gekürzt wurden. Kapitän Stan Ellen hatte sich nur mit Mühe und Not durchsetzen können.
Die meisten Männer lagen apathisch in den Kojen. Diejenigen, die sich noch einigermaßen bei Kräften befanden, verfluchten und beleidigten den Kapitän, schimpften auf die Steuerleute und verdammten sie, weil sie den Kurs nicht fanden, weil kein Land mehr gesichtet wurde, weil niemand wußte, wo sie sich befanden.
Blake schlief wieder ein, träumte wirres Zeug und schwitzte.
Als er zum zweiten Male die Augen aufschlug, schloß er sie schnell wieder und blinzelte. Er tat so, als schlafe er.
Reverend Thornton lungerte am Wasserfaß herum. blickte immer wieder aus seinen schmalen Augen über das ausgestorbene Deck und musterte Blake ausgiebig.
Thornton rief ihm leise etwas zu, doch Blake reagierte nicht. Will doch mal sehen, ob dieser scheinheilige Kerl nicht wieder heimlich Wasser zapft, dachte er. Aus halbgeschlossenen Lidern beobachtete er den Reverend, der auf und ab ging.
Dann bückte er sich, blickte noch einmal nach allen Seiten, öffnete den hölzernen Hahn und ließ sich grünliche, von Fäden durchzogene Brühe in die hohle Hand laufen, die er gierig trank.
Mit einem Wutschrei sprang Blake auf die Beine, stürzte auf Thornton zu und hieb ihm die Fäuste in den fetten Bauch.
Der Reverend taumelte zurück, hob matt die Hand und erhielt einen Schlag ins Gesicht, der ihn über Deck schlittern ließ.
In diesem Augenblick, gerade als Thornton am Schanzkleid ächzend zusammenbrach, erschien der Kapitän.
Sein Gesicht war maskenhaft starr, seine grauen Augen funkelten voll verhaltener Wut.
„Was geht hier vor?“ rief er scharf. Er blickte zu Blake und dann zu Thornton, der sich gerade erhob.
Zwei andere Männer erschienen gleichfalls an Deck. Der erste Offizier Wintham und der Rudergänger Hentrop. „Er klaut Wasser, Sir“, sagte Blake mit erstickter Stimme, bereit, sich sofort wieder auf Thornton zu stürzen.
„Stimmt das, Reverend?“ fragte Ellen kalt.
Thornton massierte seinen fetten Hals, hob die Augen anklagend gegen den Himmel und sah den Kapitän nicht an.
„Der Herr möge ihm seine Unbesonnenheit vergeben“, salbaderte er, „schlägt er dich auf die eine Wange, so halte die andere auch noch hin.“
„Das kannst du haben!“ brüllte Blake voller Zorn und stürzte sich von neuem auf Thornton. Bevor Ellen ihn zurückreißen konnte, prasselten harte Schläge auf Thorntons Körper.
„Genug jetzt!“ fluchte Ellen und riß Blake zurück. „Ich will wissen, ob das stimmt.“
„Natürlich nicht“, sagte Thornton weinerlich. „Der Hahn tropfte. Ich sah es zufällig und wollte ihn zudrehen.“
Wintham und Hentrop nahmen eine drohende Haltung ein. Blake wurde immer noch festgehalten, er schäumte vor Wut.
„Er lügt, der verdammte Hund!“ brüllte Blake und riß sich los. „Er säuft dauernd Wasser, wenn er glaubt, daß niemand an Deck ist. Und der Hahn hat nicht getropft, ich beschwöre es.“
„Das wird sich gleich herausstellen“, sagte Ellen.
Mit hölzernen Schritten ging er auf das Faß zu, bückte sich und sah auf die Planken.
Der Hahn hatte getropft, jedenfalls konnte man das annehmen, wenn man nur einen Blick auf die Planken warf. Ellen war da aber gründlicher und so entging ihm nicht, daß sich die Tropfen an einer anderen Stelle befanden, als hätte jemand die Hand unter den Hahn gehalten und sie dann weggezogen. Die Wasserspuren wiesen von dem Faß fort.
Ausdruckslos sah er den Reverend an.
„Seit Sie an Bord sind, Reverend“, sagte er sehr ruhig, „wird es hier immer schlimmer. Sie kaschieren Ihre Diebstähle mit frommen Worten, stehlen Brot und Wasser, ohne sich den Teufel darum zu scheren, daß Sie dadurch den anderen etwas wegnehmen. Dieses Schiff ist ein halbes Wrack, die Mannschaft ein undisziplinierter zerlumpter Sauhaufen, der langsam krepiert, weil es an allem mangelt. Und Sie schüren den Haß, säen Zwietracht und klauen. Ich werde heute abend ein Bordgericht