„Ich bedaure nur, daß wir nicht schon eher erschienen sind“, sagte der Seewolf daraufhin.
Domingo Calafuria lächelte. „Ohne Sie und Ihre Mannschaft, Señor, hätten wir niemals gegen diese Bande von Teufeln siegen können. Sie haben uns gerettet.“
„Sind denn wirklich alle tot?“ fragte Rodrigo.
„Es hat Überlebende gegeben“, erwiderte Hasard. „Ich vermute, daß die meisten ertrinken. Aber es ist damit zu rechnen, daß sich einige an Land retten.“
„Himmel“, sagte Hernán Zorba. „Wir müssen sie finden!“
„Gibt es hier im Dorf noch etwas zu holen?“ fragte Hasard.
„Was meinen Sie, Señor?“ Domingo setzte eine etwas ratlose Miene auf.
„Ich meine die Beute der Piraten.“
Ben Brighton übersetzte diese Frage auch Burl Ives und Farah Acton, und Ives antwortete: „Aber natürlich. Einmal abgesehen von den Fässern mit dem Whisky und dem Bier – irgendwo muß noch meine Schatulle liegen.“
„Was für eine Schatulle?“ erkundigte sich der Seewolf.
„Ich hatte sie Olivaro dafür ausgehändigt, daß er uns am Leben ließ und Farah verschonte“, erklärte der Kapitän. „Ich bin ziemlich sicher, daß Olivaro die Schatulle nicht mitgenommen hat, als er an Bord seines Schiffes gegangen ist. Wir haben in unserem Gefängnis gehört, wie er eine der Bohlen des Fußbodens löste. Vielleicht hat er die Schatulle dort versteckt.“
„Ich glaube, Olivaro gehört zu den Überlebenden“, sagte Shane.
„Ganz sicher sogar“, sagte Hasard. „Ich habe gesehen, wie er ins Wasser sprang. Wenn er es bis zum Ufer geschafft hat, dann wird er sich die Schatulle holen wollen. Außerdem weiß er ja nicht, daß seine Wächter tot sind. Noch ahnt er nicht, daß sich das Dorf wieder in der Hand seiner rechtmäßigen Besitzer befindet.“
„Wir müssen sofort etwas unternehmen!“ drängte Rodrigo.
„Ed“, sagte Hasard. „Die Männer verlassen sofort das Schiff und beziehen im Dorf Stellung. Nur Old O’Flynn und sechs Mann bleiben als Wache an Bord.“
„Aye, Sir.“ Carberry lief zum Ufer und gestikulierte zur Schebecke hinüber. Dann setzte er sich in das Boot und pullte zum Schiff.
Die Fischer rannten durch das Dorf und nahmen ihre Posten ein. Hasard, Shane und Ben ließen sich von Ives und dem Mädchen zu der Haupthütte führen. Hier brauchte Ives nicht mehr als ein paar Minuten, um die lose Bohle zu finden. Er förderte die Schatulle zutage und wies sie vor.
„Das Geld ist noch drin“, stellte er fest, nachdem er den Deckel geöffnet hatte. Spontan drückte er Hasard die Schatulle in die Hand. „Hier, jetzt gehört sie Ihnen, Sir.“
Hasard schüttelte den Kopf und reichte ihm die Schatulle zurück. „Das kommt überhaupt nicht in Frage. Ich würde von Ihnen niemals ein Geschenk annehmen.“
„Aber was Sie für uns getan haben …“
„War meine Pflicht“, erwiderte Hasard ernst.
„Wir sind stolz darauf, ein ganzes Fischerdorf und zwei englische Bürger aus den Klauen einer Piratenbande befreit zu haben“, sagte Ben Brighton.
Plötzlich ertönte draußen ein Pfiff.
„Achtung“, sagte der Seewolf. „Es scheint sich etwas zu tun.“ Er griff zur Pistole.
9.
Olivaro und seine drei letzten Kumpane näherten sich von der Nordseite dem Fischerdorf. Von einem etwas erhöhten Punkt aus konnten die Kerle sehen, wie das Beiboot der Schebecke voll besetzt zum Ufer glitt. Im Dorf selbst regte sich nichts.
Olivaro schloß daraus folgendes: Die fremden Bastarde waren gerade erst eingetroffen und schickten sich nun an, an Land zu gehen und das Dorf zu besetzen. Corvo und die drei anderen Wächter lagen auf der Lauer. Im richtigen Moment würden sie das Feuer auf die Hunde eröffnen.
Es galt also, Corvo und die drei Posten sinnvoll zu unterstützen. Olivaro gab seinen Begleitern ein Handzeichen. Vorrücken – es mußte jetzt ihr Bestreben sein, zu Corvos Gruppe zu stoßen.
Er, Olivaro, würde das entbrennende Feuergefecht dazu nutzen, sich die Schatulle zu schnappen, die Geiseln aus dem Keller zu holen und abzuhauen.
Als die Piraten ins Dorf schlichen, vernahmen sie einen Pfiff. Kein Zweifel, das war Corvo, der seinen Kerlen soeben ein Zeichen gab.
Doch Olivaro sollte eine herbe Überraschung erleben.
Er pirschte mit seinen Kumpanen an der Rückwand einer Hütte entlang. Sie umrundeten die Ecke und bewegten sich weiter. Als sie auf die Gasse treten wollten, die zu dem Hauptquartier führte, öffnete sich links von ihnen eine Tür. Der Lauf einer Muskete schob sich durch den Spalt.
Eine Stimme sagte: „Ergebt euch! Ihr habt keine Chance!“ Die Stimme gehörte Hernán Zorba.
Auf den Dächern der Hütten richteten sich Gestalten auf. Sie waren mit Steinschleudern bewaffnet. Aus zwei Gassen traten Domingo und Rodrigo Calafuria sowie weitere fünf Fischer. Sie hatten Messer und Säbel. Und aus der Haupthütte traten fünf Gestalten. Sie marschierten geradewegs auf die Piraten zu – Hasard, Shane, Ben, Burl Ives und Farah Acton.
„Verrat!“ zischte Olivaro.
„Olivaro“, sagte der Seewolf auf Spanisch. „Das Spiel ist aus! Deine vier Wachtposten sind tot!“
„Und die Schatulle habe ich wiedergefunden“, sagte Ives.
„Was für eine Schatulle?“ schrie einer der Piraten.
„Münzen, was?“ heulte der Kerl hinter ihm.
„Du hast uns betrogen!“ brüllte der vierte Kerl.
„Wolltest dir die Beute unter den Nagel reißen!“ rief der erste Pirat hinter Olivaro. „Nur darum hast du die Engländer am Leben gelassen!“
Von der Bucht liefen Carberry und ein Trupp Arwenacks ins Dorf. Olivaro konnte verfolgen, wie sie mit gezückten Waffen alle strategisch wichtigen Punkte besetzten. Das Boot glitt zurück zur Schebecke. Bald trafen weitere Männer ein. Es war sinnlos, zu kämpfen. Und auch fliehen konnte Olivaro nicht mehr. Ja, das Spiel war aus.
Das begriffen auch die drei anderen Piraten. Sie stürzten sich auf ihren Anführer. Olivaro hieb mit dem Messer um sich wie ein Verrückter. Zwei Kerle sanken getroffen zu Boden. Ehe Hasard und seine Kameraden eingreifen konnten, prallte auch der dritte Pirat blutend gegen die Hausmauer. Stöhnend kippte er zur Seite.
Hernán Zorba trat ins Freie.
„Recht so“, sagte er. „Bringt euch gegenseitig um.“
Olivaro wirbelte zu ihm herum. Haß loderte in seinen Augen.
„Du fühlst dich stark, weil du eine Muskete hast, wie?“ schrie er.
Hernán Zorba stellte die Muskete weg und zückte sein Messer.
„Dann zeig mir mal, was in dir steckt, du Ratte“, sagte er.
Olivaro wollte sich auf den Mann werfen, doch der Seewolf trat dazwischen. Seine rechte Hand landete bretthart auf Olivaros Unterarm. Der Kerl brüllte auf. Das Messer fiel zu Boden. Olivaro wich langsam zurück.
„Feiglinge!“ heulte er.
„Also los“, sagte Domingo Calafuria. „Auf was warten wir? Knüpfen wir ihn auf.“
Hasard schüttelte den Kopf. „Ben, gib mir deinen Degen.“
„Sir“, sagte Burl Ives. „Das Anrecht auf ein Duell mit diesem Hundesohn steht mir zu.“
„Dieses