Die Kähne und Barkassen der Casa-Inspektoren waren verschwunden. Dafür setzte ein reger Verkehr unter den einzelnen Schiffen ein. Überall wurden Boote zu Wasser gelassen. Wahrscheinlich waren viele Kapitäne miteinander befreundet und nutzten die erste Gelegenheit, sich nach der sechzigtägigen Fahrt wiederzusehen und eine Flasche Wein miteinander zu trinken.
Hasard war so in Gedanken versunken, daß er regelrecht zusammenzuckte, als Ben Brighton ihn am Arm herumzog.
„Da!“ sagte er nur und wies auf ein kleines Boot, das von zwei spanischen Seeleuten direkt auf die „Barcelona“ zugepullt wurde.
Hasard kniff die Augen zusammen. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und die Dunkelheit senkte sich schnell über das Land. Hasard erkannte am Heck des Bootes einen Mann in eleganter Kleidung. Der weiße Spitzenkragen leuchtete.
„Was mag der von uns wollen?“ fragte er verblüfft.
Ben Brighton atmete schneller als gewöhnlich. Seine breiten Schultern hoben sich. Hasard wartete seine Antwort nicht ab. Er lief zur Quarterdecksbrüstung und rief Dan O’Flynn leise zu, er solle Ferris Tucker und die anderen Männer von der „Santa Barbara“ herüber auf die „Barcelona“ holen. Carter solle als Ankerwache drübenbleiben und einen Stummen markieren, falls jemand ihn ansprechen sollte.
„Aye, aye, Sir“, flüsterte Dan. Er hatte genau wie die anderen das Boot ebenfalls entdeckt und wußte, was jetzt auf dem Spiel stand.
Dicht vor dem Bug der „Barcelona“ hielt das Boot an.
„Hola, nave!“ rief der Mann, der aufgestanden war. „Hier ist Capitan Romero Valdez von der ‚Isabella von Kastilien‘. Wo ist denn Señor Juan Descola, mein alter Compadre? Hat er seine Saufnase schon in einen Krug Wein getaucht?“
Ben Brighton übersetzte die Worte hastig und blickte den Seewolf fragend an.
Hasard überlegte fieberhaft. Entweder ließ er den Capitan der „Isabella“ an Bord und nahm ihn als Gefangenen mit, oder aber er versuchte, den Mann abzuwimmeln, indem er erklärte, der gute Juan Descola läge seit einem halben Jahr krank darnieder, und er, Alfonso Sowieso, hätte jetzt die „Barcelona“ unter seinem Kommando. Die Wahrscheinlichkeit, daß Valdez in Westindien von Descola gehört hatte, war gering, aber vielleicht war Valdez ein mißtrauischer Mensch. Andererseits würde die Mannschaft der „Isabella“ sicher Alarm schlagen, wenn die „Barcelona“ am nächsten Morgen auslief, ohne daß ihr Capitan auf die „Isabella“ zurückgekehrt war.
„Hola! Was ist los?“ rief der Spanier ungeduldig.
Ben Brighton blickte Hasard fragend an.
„Hol ihn an Bord“, sagte Hasard entschlossen. „Sag ihm, daß Kapitän Descola schon in seiner Kammer sitzt und seinen Madeira säuft.“
Ben Brighton fand keine Zeit, Einwände zu erheben. Hasard hatte sich bereits umgedreht und Blacky einen Wink gegeben, die Jakobsleiter hinunterzulassen. An der anderen Seite des Schiffes kletterten gerade Ferris Tucker, Pete Ballie und die anderen Männer der „Santa Barbara“ über das Schanzkleid an Bord.
Ferris Tuckers schwarze Lockenperücke hing ihm schief ins Gesicht, und er knurrte etwas, als er Dan O’Flynns Grinsen bemerkte. Mit einer kurzen Handbewegung scheuchte Hasard die Männer über Deck. Er zog Ferris Tukker am Ärmel und stieg den Niedergang zum Quarterdeck hinauf. Hasard wollte sich in der Kapitänskammer auf die Lauer legen.
Ben Brighton war inzwischen in die Kuhl hinabgestiegen, um Capitan Romero Valdez in Empfang zu nehmen. Er zischte Blacky und den anderen etwas zu, und die Männer mimten spanische Seeleute, die beim Aufklaren des Decks waren. Dan O’Flynn begann sogar damit, ein paar spanische Brocken zu palavern, und Ben Brighton hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, so scheußlich klang das.
Zum Glück war Capitan Romero Valdez nicht mehr ganz nüchtern. Außerdem war er völlig sorglos. Während der zweimonatigen Fahrt von Westindien herüber in die Heimat hatte er Tag und Nacht mißtrauisch das Meer beobachten müssen. Hier, im sicheren Hafen von Cadiz, brauchte er nichts mehr zu befürchten.
Ben Brighton half dem Capitan die Stufen zum Quarterdeck hoch und führte ihn durch den Gang in die Kapitänskammer.
Romero Valdez öffnete die Tür selbst. Sein Gesicht strahlte vor Wiedersehensfreude. Er wollte schon die Arme ausbreiten, als er den fremden jungen Riesen vor dem Schreibtisch stehen sah.
Er blickte in zwei eisblaue Augen, die aus einem Gesicht schauten, das von Wind und Wetter gezeichnet war. Ein Gesicht, das Härte und Wildheit verriet. Dieser große junge Mann strahlte etwas aus, das Romero Valdez zusammenzucken ließ.
Daß er nicht Juan Descola war, hätte selbst ein Blinder gemerkt. Romero Valdez aber hatte einen Instinkt, der ihn vor einer drohenden Gefahr warnte.
Dieser Mann dort vor dem Schreibtisch war eine Gefahr für ihn, das merkte er trotz des Alkohols, den er schon an Bord seines Schiffes getrunken hatte. Er griff zur Hüfte, an der sein Toledo-Degen hing. Gleichzeitig wollte er einen Schritt zur Seite treten, um aus dem Wirkungskreis des Mannes zu kommen, der hinter ihm stand.
Eine riesige Pranke legte sich um sein rechtes Handgelenk. Romero Valdez schrie leise auf. Er wollte den Degen herausreißen, aber die Faust, die seinen Arm gepackt hatte, war wie ein Schraubstock.
Der Capitan drehte den Kopf. Er sah einen grimmig dreinblickenden Riesen mit einer schwarzen Lockenperücke, die zu ihm paßte wie eine Wollmütze zu einer Hafenratte.
Valdez blieb nichts anderes übrig, als den Knauf seines Degens loszulassen, wenn er sich seinen Arm nicht brechen lassen wollte.
Mit der anderen Hand zog Ferris Tucker den Toledo-Degen aus der Scheide und reichte ihn Hasard.
„Durchsuch ihn nach weiteren Waffen, Ferris“, sagte Hasard und richtete die Spitze des Degens auf die Magengegend von Romero Valdez.
Ferris Tucker tastete den Spanier ab, fand aber keine Pistole und kein Messer. Er stieß den Capitan auf den Schreibtisch zu. Dabei rutschte ihm die Perücke vollends ins Gesicht. Er fluchte laut, riß sich das Ding vom Kopf und feuerte es in eine Ecke.
Der Capitan der „Isabella von Kastilien“ stand mit leicht gekrümmtem Rücken vor Hasard und Ben Brighton. Seine Benommenheit, die vom genossenen Wein herrührte, war wie weggewischt. Seine schwarzen Augen huschten durch den Raum, als ob sie einen Ausweg suchten.
Valdez hatte inzwischen begriffen, und je mehr er über diese Ungeheuerlichkeit nachdachte, desto größer wurde seine Angst. Wenn die Engländer es gewagt hatten, mit einer riesigen spanischen Flota zu segeln und rotzfrech auf der Reede von Cadiz zu ankern – unter den Kanonen von zehn großen Kriegsgaleonen! –, dann würden sie sicher nicht zögern, das Leben eines spanischen Kapitäns auszulöschen, wenn er ihren Zielen im Wege stand.
Hasard beobachtete das Mienenspiel des Spaniers. Er konnte in dem bleichen Gesicht lesen wie in einem Buch. Er sah, wie das Entsetzen des Capitans von Sekunde zu Sekunde größer wurde.
Hasard begann zu grinsen und bedeutete dem Spanier mit einer einladenden Handbewegung, Platz zu nehmen. Ferris Tucker trat hinter den Capitan und rammte ihm einen Stuhl in die Kniekehlen, daß ihm gar nichts anderes übrigblieb, als sich zu setzen.
Hasard holte eine Flasche Wein hervor und schenkte zwei Gläser voll, die auf dem Schreibtisch standen. Er schob das eine dem Capitan zu und nahm das andere hoch.
„A su salud, capitan!“ sagte er und setzte sein Glas an die Lippen. Über den Rand des Glases hinweg musterte er den Spanier, der sich nicht rührte.
„Wenn er nicht will …“, sagte die tiefe Stimme von Ferris Tucker, und ehe Hasard etwas sagen konnte, hatte der Riese das Glas geschnappt und sich den Inhalt in den Hals geschüttet.
Hasard übersah es großzügig. Er wandte sich an Ben