Es konnte sich um die „Wappen von Kolberg“ handeln, deren Aussehen die Piratin ebenfalls in allen Einzelheiten beschrieben hatte. Und wo waren die „Tortuga“, der Schwarze Segler und die „Le Vengeur III.“, von denen sie berichtet hatte? Der Großteil des Verbandes von Philip Hasard Killigrew schien bereits ausgelaufen zu sein.
Somit war die Fahrt von Hispaniola nach Tortuga für Sarraux und Nazario eine Enttäuschung. Doch sie hatten ihre klare Anweisungen. Sie sollten nicht wieder aufbrechen und unverrichteter Dinge abziehen. Sie blieben und versuchten, beispielsweise etwas über die Männer herauszufinden, die an einem Tisch bei dem grauhaarigen Seemann saßen und sich offenbar angeregt mit ihm unterhielten. Der Mann, der dem Seewolf so auffallend ähnlich sah – war das nicht Arne von Manteuffel?
„Er ist der Vetter des Seewolfs“, murmelte Nazario. „Die Queen hat ihn doch auch beschrieben.“
„Dann werden wir ihm und seinen Leuten von jetzt an im Nacken sitzen wie die Zecke am Hintern einer Seekuh“, sagte Sarraux gedämpft. „Mal sehen, was dabei für uns herausspringt.“
„Zwanzig Piaster, vergiß es nicht.“
„Ich denke die ganze Zeit daran“, brummte der Bretone. „Und wir verholen uns erst dann wieder, wenn wir uns den Zaster redlich verdient haben, darauf kannst du Gift nehmen.“
Asiaga stand wie verloren am weißen Sandstrand, ihr Blick war in die Ferne gerichtet. Der Wind umfächelte ihr hübsches Gesicht, ihre Gestalt und spielte mit dem Saum ihres Kleides. Lächelnd trat Tamao zu ihr und griff nach ihrer Hand.
„Ich habe dich schon überall gesucht“, sagte er sanft. „Auch die anderen fragen nach dir. Hältst du wieder nach Schiffen Ausschau?“
„Ja“, erwiderte sie und wandte ihm ihr Gesicht zu. „Sie werden kommen. Shawano hat es vorausgesagt, und er täuscht sich selten.“
„Aber auch er kann nicht hinter die Kimm blicken. Das kann nur ein Jonas, sagt Marcos, aber keiner weiß wirklich, was ein Jonas ist.“
Sie mußte lachen. „Dieser Marcos mit seinen Geschichten! Glaubst du denn alles, was er erzählt?“
„Nicht alles. Aber es ist auch nicht immer reines Seemannsgarn, was er so von sich gibt. Er glaubt nicht, daß wir Besuch kriegen. Von wem denn auch?“
„Von Hasard“, entgegnete sie etwas störrisch. „Wir werden ja sehen, wer recht behält. Wenn du willst, kannst du darüber eine Wette mit mir abschließen.“
„Ein Timucua wettet nicht“, sagte Tamao. Seine Miene war jetzt beinah entsetzt. „Das weißt du doch. Ich lasse von unserer Tradition nicht ab und werde nie wie ein weißer Mann denken, sprechen und handeln.“
Sie war darauf aus, ihn zu necken. „So? Den Eindruck habe ich aber nicht. Dauernd hockst du mit unseren vier Spaniern zusammen. Mich hast du schon vergessen.“
„Das stimmt nicht!“ rief er. „Sag so was nie wieder!“
Sie ließ seine Hand los und lief vor ihm weg. Er hörte ihr silberhelles Lachen, begriff und eilte ihr nach. Kurz vor den mächtigen Stämmen der Palmen holte er sie ein, griff nach ihren Hüften und warf sie zu Boden. Sie überrollten sich auf dem weißen Sand, blieben nebeneinander liegen und küßten sich innig.
„Ich liebe dich“, sagte er. „Ich werde nie aufhören, dich zu lieben, und eines Tages werden wir eine Familie sein.“
„Das hoffe auch ich“, sagte sie. „Coral Island ist ein treibendes Floß in einem Meer, das keine Feindschaft, keinen Krieg und keine Krankheit kennt. Ich bin glücklich mit dir, Tamao, und es gibt keinen besseren Vater für meine Kinder als dich.“
Nun begannen sie, Zukunftspläne zu schmieden – wie viele Kinder sie haben wollten, wie viele davon Söhne und Töchter. Asiaga zeichnete mit einem Zweig Linien in den Sand, und es entstand die Hütte ihrer Träume, das Haus, das Tamao für sie bauen würde.
Sie erhoben sich, küßten sich wieder und strebten eng umschlungen dem grünen Vorhang des Inseldschungels entgegen. Fast hatten sie das Buschwerk erreicht, da ertönte ein heller, scharfer Pfiff, der über ganz Coral Island schallte. Tamao und Asiaga blieben stehen und fuhren herum.
Rafael, der als Ausguckposten den höchsten Felsen der Insel erstiegen hatte, hatte den Pfiff ausgestoßen.
„Schiffe!“ schrie er. „Im Südwesten!“
Die beiden jungen Indianer konnten den Spanier nicht sehen, aber sie verstanden seine Worte deutlich genug. Rasch kehrten sie zum Strand zurück, und Tamao kletterte den Stamm der höchsten Palme hinauf. Er richtete seinen Blick in die von Rafael genannte Richtung und schirmte die Augen mit der einen Hand gegen die Sonnenstrahlen ab.
Am frühen Morgen war es sehr dunstig gewesen, doch inzwischen war das Wetter so sichtig, daß Tamao mit dem bloßen Auge die Schiffe erkennen konnte, die sich Coral Island näherten. Galeonen – sie segelten in Dwarslinie! Von den drei letzten waren vorerst nur die Masten zu sehen, das Führungsschiff aber hob sich klar mit den Aufbauten über die Kimm hinaus.
„Es ist die ‚Isabella‘!“ rief Tamao. „Shawano hatte recht! Unsere weißen Freunde besuchen uns!“
„Arwenack!“ brüllte nun auch Rafael. „Es sind die Seewölfe! Hurra!“
Die Kunde verbreitete sich unter den Bewohnern der Insel wie ein Lauffeuer. Shawano verließ seine Hütte, die Männer und Frauen seines Stammes umringten ihn, Kinder stießen helle, jauchzende Laute aus. Die Timucuas, die Spanier und alle anderen, die zu der kleinen, verschworenen Gemeinschaft auf Coral Island gehörten, begaben sich zum Südstrand, um die vier Schiffe in Augenschein zu nehmen.
Tamao saß nach wie vor in der Krone der Palme, und als die Gruppe eintraf, rief er gerade: „Hinter der ‚Isabella‘ segelt das schwarze Schiff! Und das dort, das ist die ‚Le Vengeur‘!“
Shawano blieb unter den Palmen stehen, verschränkte die Arme vor der Brust und nickte Asiaga zu, die ihn voll Verehrung anlächelte.
Für sie war Shawano der größte aller Häuptlinge. Alle Vorzüge, die ein Stammesführer haben konnte, vereinten sich in seiner Person. Er war mutig, ehrlich und gerecht. Seine Aufopferung für die Timucuas kannte keine Grenzen, für jeden von ihnen tat er, was in seinen Kräften stand. Sein Handeln war stets uneigennützig, und nie ließ er es an der erforderlichen Umsicht mangeln. Er war der ideale Häuptling für die Siedler auf Coral Island, sie hätten sich keinen besseren Mann an ihrer Spitze wünschen können.
Das vierte Schiff, so stellte sich jetzt heraus, war die „Tortuga“. Unwillkürlich drängte sich den Beobachtern die Frage auf, wo denn die „Wappen von Kolberg“ sein mochte, aber natürlich sagten sie sich, daß sie mit größter Wahrscheinlichkeit auf der Schlangen-Insel zurückgeblieben war. Den Sachverhalt und derzeitigen Stand der Dinge sollten sie erst erfahren, als der Seewolf und seine Verbündeten landeten.
Tamao stieg von der Palme und schloß sich der Gruppe an, die winkend und lachend zur Bucht lief. Hoch am Wind segelten die vier Schiffe, ihr Vollzeug bauschte sich an den Rahen. Steile Bugwellen, von weißen Bärten gekrönt, schoben sie vor sich her, ihre Parade hatte etwas Majestätisches, Würdevolles.
Ein Begrüßungsböller ertönte von Bord der „Isabella IX.“ Der Seewolf hatte eine der achteren Drehbassen abfeuern lassen. Jetzt kannte der Jubel der sonst reservierten Timucuas keine Grenzen mehr. Sie lachten und schrien, tanzten und sangen und bereiteten den Besatzungen der Schiffe einen Empfang, der an Herzlichkeit nicht zu überbieten war.
Die „Isabella IX.“, die „Le Vengeur III.“, die „Tortuga“ und der Schwarze Segler liefen