"Ja", presste Ernst Fuchs durch die Zähne. "Jeder von uns. Aber ich an erster Stelle. Ich war ihr Bruder..."
"... und ich ihr Geliebter", ergänzte Michael Krawulke und produzierte ein seltsames Grinsen. "Hast du das gewusst, Franky?"
Ich schaute Ernst an. Der starrte ins Leere. Er drehte sein leeres Glas unruhig zwischen den Fingern.
"Ich weiß", antwortete ich, "aber das war vor meiner Zeit."
"Du hast mich bei Erika abgelöst", erklärte Michael Krawulke.
"Das hat mir bei der Polizei Ärger gemacht. Es gab ein paar Idioten, die der Meinung waren, ich könnte Erika aus Gründen der Eifersucht umgelegt haben."
"Ja, davon habe ich gehört. Aber du hattest für die Tatzeit ein Alibi. Ein hieb- und stichfestes Alibi."
"Stimmt", bestätigte er.
"Die Sache hat nur einen Haken."
"Nämlich?"
"Deine Zeugen sitzen hier am Tisch."
"Was dagegen?"
"Das kommt darauf an. Ihr seid Freunde seit den Tagen, wo ihr eine Bande gegründet habt, während der Kriegsjahre. Einer steht für den anderen ein — egal, was kommt. Richtig?"
"Richtig", nickte Michael Krawulke, "aber das schließt Mord aus. Für so was sind wir nicht zu haben. Verdammt, du hast drei Wochen mit Erika zusammen gelebt, ehe sie abgemurkst wurde. Glaubst du wirklich, ein Eifersüchtiger würde so lange mit dem Zuschlagen gewartet haben?"
"Vielleicht brauchtest du die Zeit, um mit dir ins reine zu kommen", kommentierte ich.
"Er war es nicht", schaltete Ernst sich ein. "Das weiß ich."
"Weißt du es, oder glaubst du es?", fragte ich fordernd.
"Ich weiß es", antwortete er.
"Wer weiß mehr, als in der Vossischen steht?", fragte ich.
"Moment", sagte Michael Krawulke, "noch sind wir am Zuge. Seit Erikas Tod und deinem Verschwinden sind acht Wochen verstrichen. Warum kreuzt du erst jetzt auf?"
"Ich hatte keine Lust, der Polizei in die Arme zu laufen", beantwortete ich seine Frage.
"Das kann ich bestätigen", meinte die Blonde neben mir. Ich schaute sie an. Ihr Profil hätte klassisch genannt werden können, wenn nicht dieser sinnliche Mund und die etwas kecke, stupsige Nase gewesen wären.
"Die Polizei hat die Mansarde vor zwei Wochen freigegeben", stellte Michael Krawulke klar. "Wenn du willst, kannst du sie benutzen. Aber niemand darf erfahren, dass du wieder hier bist."
"Niemand kennt mich in der Gegend", sagte ich.
"Nur ihr wisst Bescheid. Wenn mich da oben die Polizei hops nehmen sollte, ist klar, dass einer von euch gesungen haben muss."
Ich blickte hinüber zum Wirt, der immer noch damit beschäftigt war, seine erkaltete Zigarre im Mund hin und her zu rollen. "Das schließt Sie ein, mein Freund!"
"Von ihm hast du nichts zu befürchten, das ist unser Mann", sagte Michael Krawulke. "Aber da wäre noch eine Frage. Was geschieht mit deinem Fräulein?"
Alle starrten die Blonde an. Sie lächelte. "Blöde Frage! Ich bleibe bei ihm. Was dagegen?"
"Seit wann kennen Sie Franky?", fragte Michael neugierig.
"Was geht das Sie an?"
"Ich muss es wissen", stellte er fest.
"Okay, ich habe ihn vor sechs Wochen kennengelernt. Er war völlig fertig wegen dieser Geschichte mit Erika. Ich habe versucht, ihn wiederaufzurichten. Ich glaubte schon, dass mir das gelungen sei. Dann verschwand er plötzlich und reiste nach Berlin..."
"Hat er Ihnen gesagt, wohin er zu fahren beabsichtigte?", fragte Michael Krawulke.
"Nein."
"Woher haben Sie dann gewusst, dass er hier aufkreuzen würde?", wollte Michael Krawulke wissen.
"Kunststück!", spottete sie. "Er hatte sämtliche Zeitungsausschnitte gesammelt, die sich mit Erikas Tod und mit seinem Verschwinden befassten. Dieses Lokal und eurer Verein kommen darin immer wieder vor. Es war für mich klar, dass ich ihn hier finden würde."
"Okay", sagte Michael Krawulke und hob seine rechte Hand. "Geben wir uns erst einmal damit zufrieden."
"Erst einmal?", echote ich. "Was soll das heißen?"
"Erika gehörte zu uns", stellte Michael Krawulke mit kalt funkelnden Augen klar. "Man hat sie uns genommen. Wir werden das Verbrechen aufklären und den Schuldigen zur Strecke bringen."
"Prima", sagte ich langsam, "dann sitzen wir ja alle in einem Boot."
"Gerade darüber muss ich erst noch Klarheit erlangen", erwiderte er.
"Wie meinst du das?"
"Ich habe ein Alibi", sagte er. "Aber wie ist es mit dir?"
Alle schauten mich an, die Blonde inbegriffen.
"Ihr wisst, dass ich niemals die Wohnung verlassen habe. Niemand wusste, wie ich aussehe. Wenn es mir darum gegangen wäre, Erika zu töten, hätte ich das in der Wohnung erledigen können."
"Das haben wir uns auch gedacht", meinte Ernst. "Keiner von uns hat dich verdächtigt."
"Erika sagte uns, dass sie dich liebt und dass du sie liebst", meinte ein gewisser Klaus. Er hatte ein Boxergesicht und wulstige Lippen. Die Worte, die er benutzte, nahmen sich in seinem Mund irgendwie seltsam und sogar ein bisschen rührend aus.
"Und außerdem", meinte Ernst Fuchs, "hatte er kein Motiv."
Das war für die anderen bestimmt. Michael Krawulke runzelte die Augenbrauen.
"Das wissen wir nicht", sagte er schroff.
"Wir waren nie dabei, wenn die beiden in der Mansarde miteinander turtelten. Sie werden nicht nur sonnige Stunden miteinander erlebt haben. Verdammt, sie lebten fast wie Knackis. Das schafft Spannungen, und Spannungen führen zu Entladungen."
"Sie hat sich nie mit ihm gestritten", meinte Ernst.
"Ich kenne Erika", sagte Michael Krawulke. "Wenn sie sich gestritten hätte, wäre sie gewiss nicht zu ihrem Bruder gelaufen, um sich an dessen Schulter auszuweinen."
Ich schaute die Blonde an. "Was trinkst du?"
"Das übliche", sagte sie nur.
"Bourbon mit Soda", bestellte ich kurzerhand. Die Blonde hauchte mir einen Kuss auf die Wange.
"So etwas gibt es hier nicht. Das ist eine Kneipe, keine Bar!", antwortete einer aus der Runde.
"Also gut, dann nehmen wir eben einen Cognac!"
"Weinbrand hätte ich da. Asbach!"
"Gut!"
"Ich bin so froh, dass ich wieder bei dir bin...", hauchte mein blonder Engel und kuschelte sich eng an mich.
"Du kannst wieder aufschließen", sagte Michael Krawulke zu dem Wirt. "Die Sache ist ausgebügelt."