"Liebling", flüsterte sie schmollend und strich mir mit zwei Fingern liebkosend über die Wange. "Du warst nicht ganz fair zu mir. Warum bist du einfach abgehauen?"
Michael Krawulke schob sich zwischen uns. Er wischte mit dem Handrücken seine aufgeplatzte Unterlippe ab. "Moment, Fräulein", murmelte er. "Woher kennen Sie den Mann?"
Die Blonde musterte ihn, als sei sie überraschend auf ein sechsbeiniges Pferd gestoßen. "Was wünschen Sie, mein Herr?", hauchte sie und blinzelte mit den Augenlidern.
"Ich will wissen, wer das ist", brummte Michael Krawulke und war dabei schon fast wieder der Alte.
"Mein Freund Franky. Genügt Ihnen das?"
"Nein. Franky und wie noch weiter?"
"Steinfurt", gurrte die Blonde. "Lieber Himmel, was ist denn hier los? Sie haben sich mit ihm geprügelt, nicht wahr? Das hätten Sie lieber sein lassen sollen. Franky hasst es, seine Fäuste zu benutzen, aber wenn er dazu gezwungen wird, dann gibt’s Kleinholz!"
"Ein Eierkopf!", höhnte Michael Krawulke. "Maskerade! Haben Sie schon mal einen Intellektuellen erlebt, der wie ein Preisboxer kämpft? Nein, mit dieser Faustkampfschau hat er bewiesen, dass er ein Polyp ist. Steinfurt konnte Maschinen konstruieren — aber keine Gegner umhauen."
"Sie sind offenbar schlecht über die Grundausbildung unserer Leute informiert", höhnte die Blonde. "Jeder muss einmal im Jahr an einem Lehrgang zur Selbstverteidigung teilnehmen. Franky war dabei stets der Beste seiner Klasse — obwohl ihm das Prügeln nicht liegt. Habe ich recht, Franky?"
Meine Verblüffung wuchs, obwohl ich mich hütete, sie zu zeigen. Was die Blonde sagte, traf rundherum zu. Woher stammten ihre Informationen?
"Das ist richtig", warf Ernst Fuchs ein. "Meine Schwester hat es mir erzählt. Sie war einmal mit Franky unterwegs und wurde dabei von einem Schläger belästigt. Franky machte mit ihm kurzen Prozess."
"Das höre ich zum ersten Mal", knurrte Michael Krawulke. "Warum hast du uns das nicht früher erzählt?"
"Es war doch nicht wichtig", murmelte Ernst Fuchs und wirkte dabei etwas betreten. "Aber wir können leicht feststellen, ob er wirklich Franky ist..."
"Nämlich?" fragte Michael Krawulke. "Erika sagte mir, dass er eine lange rote Narbe am linken Unterarm hat."
Michael Krawulke schaute mich an. "Na los!" forderte er höhnisch. "Zeig uns mal das Ärmchen, Franky!"
Ich zögerte ein paar Sekunden, dann zog ich mein Jackett aus und krempelte den linken Ärmel hoch. Die Männer starrten beeindruckt auf eine fingerlange Narbe an meinem Unterarm. Unser Maskenbildner hatte nicht viel Mühe gehabt, sie mir zu verpassen.
"Genügt das?", fragte ich.
Michael Krawulke streckte mir die Hand entgegen, aber in seinem Gesicht war nichts von dem friedfertigen und einlenkenden Charakter der Geste zu erkennen.
"Ich gebe mich geschlagen", brummte er. "Du bist also Franky. Ich finde, du schuldest uns ein paar Antworten. Setz dich, mein Junge."
Er wandte sich an die Blonde. "Darf man erfahren, mit wem wir das Vergnügen haben?"
"Ich bin Josefine Fischer", antwortete sie.
"Von hier - aus Berlin?", fragte Michael Krawulke.
"Nein, aus Hamburg. Was dagegen?"
"Was ist das hier?", mischte ich mich unwillig ein. "Ein Verhör?"
"Ja", sagte Michael Krawulke, sah mich an und ballte die Fäuste. "Denn wenn du Frank Steinfurt bist, gibt es noch ein paar Fragen zu klären. Sie betreffen Erikas Tod."
"Sicher", sagte ich und zermarterte mir den Kopf, was die Blonde auf den Plan gerufen hatte und wie ich sie einordnen musste. "Deshalb bin ich hier."
Michael Krawulke wandte sich an den Wirt. "Verriegele die Tür, Sperrstunde ab jetzt, Alter!" befahl er. "Wir möchten nicht gestört werden und mache eine Runde für alle fertig. Die anderen schicke nach Hause."
Otto, der Wirt, zögerte. Er machte kein sehr glückliches Gesicht, befolgte aber Michael Krawulkes Aufforderung ohne Widerrede. Allein die Kasse musste stimmen.
"Rücken wir ein bisschen zusammen", meinte Michael Krawulke. "Am Tisch ist für alle Platz."
Die Blonde setzte sich neben mich. Josefine Fischer? Ich konnte mich nicht erinnern, den Namen schon einmal gehört zu haben.
"Was geschah am 11. August?", fragte mich Michael Krawulke, als wir alle Platz genommen hatten.
"Erika ging weg, um etwas für mich zu besorgen. Sie hatte vorher einen Anruf bekommen, der sie beunruhigte", begann ich.
"Einen Anruf von wem?", fragte Michael Krawulke lauernd.
"Das weiß ich nicht."
"Ich nehme an, du warst im Zimmer, als der Anruf kam. Und selbst wenn du in der Küche oder in der Diele gewesen sein solltest, musst du mitgekriegt haben, was gesprochen wurde. Die Wohnung ist klein und verdammt hellhörig."
"Ich war im Bad", sagte ich. "Wenn die Spülung rauscht, hörst du nichts."
"Woher willst du denn wissen, dass der Anruf stattfand und sie beunruhigte?", fragte mich Michael Krawulke.
"Erika erzählte es mir. Sie war nachdenklich, nervös, anders als sonst. Ich fragte sie nach dem Grund. Sie meinte nur, jemand habe sie angerufen, und sie würde sich schrecklich darüber ärgern. Ich drang nicht weiter in sie..."
"Warum?", wollte Michael Krawulke wissen.
"Das war eine Frage des Taktes", sagte ich.
"Dann ist Erika gegangen?"
"Ja."
"Sagte sie, wann sie zurück sein wollte?"
"Nein, aber eine Stunde nach ihrem Weggang erhielt ich den Anruf. Ein Mann sprach mit mir. Mit verstellter Stimme, wie mir schien. Er sagte mir, dass Erika tot sei und dass es für mich wohl besser wäre, wenn ich verschwinden würde..."
Was ich sagte, war reine Erfindung. Niemand außer Franky Steinfurt und dem Mörder wusste, was an jenem Tag wirklich geschehen war. Natürlich gab es auch Leute, die in Frank Steinfurt den Täter sahen. Aber wer ihn gekannt hatte, hielt diese Theorie für absurd.
Allerdings hatte Steinfurt vor seinem Untertauchen einige höchst befremdliche Dinge getan, die nicht in das Bild passen wollten, das er vor seinem Ausscheren aus der Gesellschaft geboten hatte. Er hatte seine Arbeit buchstäblich im Stich gelassen, er war einfach verschwunden und hatte sich bei einer jungen Frau versteckt gehalten — warum, wusste bis heute kein Mensch. Dieses Fräulein war ermordet worden. Steinfurt war daraufhin geflüchtet. Aus Angst vor dem Mörder? Oder weil er selbst der Mörder war? All das musste ich herausbekommen.
"Das hast du geschluckt?", fragte mich Michael Krawulke.
"Mir blieb keine Wahl. Natürlich wusste ich, warum der Mann mich anrief..."
"So?"
"Ja", sagte ich. "Er wollte, dass der Tatverdacht auf mich fällt. Wenn ich abhaue, so kalkulierte er, würde man mich des Mordes verdächtigen..."
"Wenn du das vorausgesehen hast, verstehe ich nicht, warum du auf ihn eingegangen bist", meinte Krawulke.
"Ich hatte den ganzen Krempel in der Firma einfach hingeschmissen. Ich war abgehauen. Ich, ein Geheimnisträger der höchsten Geheimhaltungsstufe. Ich hatte keine Lust, in diesen Rummel verstrickt zu werden. Deshalb ging ich."
"Die Polizei hat dich gesucht", stellte Michael Krawulke fest. "Sie sucht dich vermutlich immer noch. Sie wollten dich ausquetschen, sie wollen wissen, warum Erika sterben musste."
"Das