Daraufhin sagte ihre Mutter zu ihr, dass sie gedacht habe, Anna würde Krankenschwester werden und nicht Nachtclubsängerin – vor allem nicht eine, die mit Ike Turner zusammen auftrat. Anna Mae antwortete, dass sie viel lieber Sängerin werden würde. Ihre Mutter erwiderte: „Jetzt hat es sich ausgesungen – ich will nichts mehr davon hören.“ (1)
Eine Weile galt dies als ehernes Gesetz. Doch es dauerte nicht allzu lange, bis Ike Turner – höchstpersönlich – bei ihnen zu Hause auftauchte und mit Zelma sprechen wollte. Anscheinend saß er gerade wieder in der Klemme und brauchte unbedingt einen Sänger für seine Band. Er hatte sich fein gemacht und trug ein schickes Banlon-Hemd und Hosen aus Gabardine-Stoff. Als er mit seinen Erklärungen fertig war, hatte er Annas Mutter total um den Finger gewickelt. Er versprach, dass er persönlich auf Little Ann aufpassen und sicherstellen würde, dass ihr nichts passierte. So begann Anna Mae also offiziell mit den Kings of Rhythm zu singen.
Zweifelsohne besaß Anna Mae Bullock bereits damals eine wundervolle, sehr ungewöhnliche Stimme. Tina erklärt: „Als ich begann, mit Ike zusammen zu singen, richtete ich mich nach den männlichen Sängern, die so um mich herum waren, wie Ray Charles und Sam Cooke. Als ich mit dem Singen anfing, gab es mehr Sänger als Sängerinnen. Ich glaube, dass ich so eine schwere, tiefe Stimme habe, weil auch die Stimme meiner Mutter so tief ist – und die meiner Schwester ebenfalls. Ich glaube, das Raue in meiner Stimme ist einfach ihr natürlicher Klang. Aber mein Stil rührte eigentlich daher, dass ich das, was ich in meiner Umgebung so hörte, imitierte und kopierte. Ich habe keine schöne Stimme. Sie klingt sogar manchmal ziemlich hässlich. Das, was man eigentlich unter „Singen“ versteht, mache ich nicht so gern. Hübsch zu singen, war nie mein Stil. Ich finde keinen Gefallen daran, hübsche Liedchen zu trällern. Aber mir gefällt es, wenn die Songs rau und rockig klingen. Ich mag Rock & Roll-Songs, weil das eben zu meiner Stimme passt.“ (10)
Für eine gewisse Zeit hatte Anna Mae das Gefühl, sie sei urplötzlich zu einer Art Aschenputtel geworden. Es war einfach zu aufregend, auf einmal im Rampenlicht zu stehen. „Ich wurde zu einer Art Star und fühlte mich wie etwas Besonderes. Ike ging los und kaufte mir Kleidung für meine Bühnenauftritte – einen Pelz, Handschuhe, die bis hier oben reichten, Modeschmuck und Pumps, die hinten offen waren und glitzerten, außerdem noch lange Ohrringe und modische, figurbetonte Kleider. Und ich trug einen gepolsterten BH. Ich fand mich so toll. Und dann auch noch in diesem Cadillac zu sitzen, den Ike damals hatte – es war ein pinker Fleetwood mit Heckflossen. Ich fühlte mich echt wie so eine Reiche! Und das war ein gutes Gefühl.“ (6)
Ike fing an, Anna in die Art von Star zu verwandeln, von dem er wusste, dass sie so einer sein konnte. Er bezahlte ihre Zahnarztbesuche, um ihre lange vernachlässigten Zähne in Ordnung zu bringen. Er kaufte ihr sogar einen Goldzahn, wodurch sie sich plötzlich wie jemand Besonderes fühlte. „Ich hatte ein Problem mit meinen Zähnen und meine Mutter hatte zu jenem Zeitpunkt kein Geld, um für Zahnarztkosten aufzukommen. Er sorgte dafür, dass das alles gemacht wurde. In seiner Gegenwart war ich ein kleiner Star. Ich verhielt mich diesem Mann gegenüber loyal. Er behandelte mich gut“, sagt Tina. (5)
Sie erinnert sich: „Es gab drei Kleider, die Handschuhe, die Pumps mit den offenen Hacken und die Strümpfe, bei denen die Naht hinten verlief. Das war so richtige Erwachsenenkleidung, wissen Sie. Und ich fand es so wahnsinnig aufregend, in einem pinken Cadillac zu sitzen. Ich war immer total begeistert von diesen ganzen Filmstars. Jetzt fühlte ich mich wie Bette Davis oder irgendsojemand. Ich trug die Nase ganz schön hoch. Aber diese Phase war bei mir ziemlich schnell wieder vorbei.“ (7)
Mit Ike und seiner Band zu arbeiten, war wie die Erfüllung eines Wunschtraumes. „Ike hatte von Natur aus irgendetwas an sich, so dass man gar nicht anders konnte, als ihn gern zu haben. Und wenn er dich mochte, tat er sozusagen alles für dich. Ich war da, weil ich es wollte. Ike Turner gab mir die Möglichkeit zu singen. Ich war bloß so ein kleines Mädchen vom Lande, aus Tennessee. Dieser Mann aber hatte ein großes Haus in St. Louis und einen Cadillac, Geld, Diamanten, Schuhe, all das, was Schwarze aus einer anderen Schicht bewunderten.“ (5)
Von Annas Talent war Ike einfach überwältigt. „Ich konnte seine Songs genau so singen, wie er sie sich in seinem Kopf vorstellte“, behauptet sie. (1) „Ich war Sängerin, Ike konnte nicht singen. Ich spürte, dass ihm das wehtat – weil er es sich eben so sehr gewünscht hatte, ein Star zu werden.“ (12) Aber sie bekam auch einen sehr guten Einblick in sein Privatleben.
Sie wusste sofort, dass Ike so ein Frauenheld war, wie es ihm immer nachgesagt wurde: „Oh Gott, ich weiß noch, wie er an manchen Abenden vielleicht so sechs Freundinnen im Haus hatte, und er blieb dann dort und rief seine Frau an, sie solle am selben Abend in den Club kommen – das war seine einzige Rettung.“ (6)
Anna war überhaupt nicht auf Ike Turner als Mann aus. Sie hatte dahingehend kein Interesse an ihm. Er war schließlich offiziell immer noch verheiratet, mit einer Frau eng verbandelt und hatte nebenher noch eine ganze Reihe von anderen Freundinnen. Anna wollte in das Ganze nicht mit hineingezogen werden. Sie war eine Sängerin, er der Bandleader und beide waren sie sehr gute Freunde. Er konnte sich ihr wie einem Kumpel oder einer Schwester anvertrauen. Sie war glücklich damit, ihr Verhältnis auf dieser Ebene zu halten.
Tina sah das so: „Ike behandelte mich zu Beginn meiner Karriere sehr gut. Ich ging zur High School und fing an, an den Wochenenden mit ihm zusammen zu singen. Wir waren eng befreundet. Unser Leben war eigentlich sehr nett.“ (16)
Ike klagte Anna oft sein Leid und erzählte ihr, er habe das Gefühl, dass alle ihn genau dann verließen, wenn er kurz vor dem großen Durchbruch stand. Mit dem Verlassenwerden kannte Anna sich sehr gut aus. Sie konnte es ihm perfekt nachfühlen. „Er war untröstlich darüber, dass jedes Mal, wenn er mit jemandem gemeinsam einen Plattenhit landete, diese Person natürlich unbedingt der Star sein wollte“, erinnert sie sich. „Er war mir gegenüber sehr freundlich und sehr großzügig. Schon lange vor dem Beginn unserer Beziehung. Ich versprach ihm, dass ich ihn nicht verlassen würde.“ (8)
In den 1960ern sollte sie Kompositionen von Ike Turner wie „Tina’s Prayer“ und „A Letter From Tina“ aufnehmen. Über ihr erstes Jahr bei Ike und den Kings of Rhythm hätte man ein weiteres Lied dieser Art schreiben können – und zwar mit dem Titel „Tina’s Promise“. Denn sie hatte vor, das Versprechen – ihn nicht zu verlassen – auch wirklich zu halten. Dies war etwas, das ihr selbst in ihrem jungen Leben noch niemand geschworen hatte. Etwas, das sie auch Jahre später noch quälend verfolgen sollte.
Aber vorerst war Anna Mae Bullock aus Nutbush, Tennessee, ein echter Gesangsstar. Und dabei ging sie noch zur High School! Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie endlich einmal das Gefühl, jemand zu sein. Sie hatte einen Ort, wo sie sich heimisch fühlte, Menschen, denen sie als Freundin wichtig war, und einen Job, von dem sie bisher nur zu träumen gewagt hatte. Mit einem Schlag hatte sich ihr furchtbares Leben in ein wundervolles verwandelt. Momentan – als Siebzehnjährige – lebte sie erst einmal „Little Anns“ Traum.
Anna Mae Bullock war, als sie und Ike Turner sich kennenlernten, nicht in ihn verliebt. Sie mochte ihn als Freund und stand auch liebend gern auf der Bühne und sang mit seiner Band, aber ursprünglich sollte das nie zu einer Liebesbeziehung werden. In ihrem ersten Jahr als Sängerin der Kings of Rhythm hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl, dass ihre Träume tatsächlich in Erfüllung gingen und sie ihre Ziele auch wirklich erreichte. Sie sah Ike Turner als den Mann an, der sie aus einem trostlosen und unglücklichen Leben befreit hatte. Sie waren befreundet und sie brachte ihm bedingungsloses Vertrauen entgegen. Gleichzeitig wusste sie aber auch, was über ihn erzählt wurde. Mit eigenen Augen sah sie,