Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Charles Dickens. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charles Dickens
Издательство: Bookwire
Серия: Reclam Taschenbuch
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783159618814
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mit dir, du kleines Knochengestell.«

      Mit diesen Worten öffnete die Frau des Leichenbestatters eine Seitentür und stieß Oliver die steile Treppe hinab in eine feuchte, dunkle gemauerte Kammer, die sich unmittelbar vor dem Kohlenkeller befand und »Küche« genannt wurde. Dort saß ein schlampig gekleidetes Mädchen in ausgetretenen Schuhen und verschlissenen blauen Wollsocken, die dringend der Ausbesserung bedurften.

      »Da, Charlotte«, sagte Mrs. Sowerberry, die Oliver hinabgefolgt war, »gib diesem Jungen von den kalten Fleischresten, die wir für Trip aufgehoben haben. Der hat sich seit heute morgen nicht mehr blicken lassen, also wird er darauf verzichten müssen. Ich denke mal, der Junge ist sich nicht zu fein, so etwas zu essen … nicht wahr, mein Junge?«

      Oliver, dessen Augen bei der Erwähnung von Fleisch aufblitzten und der vor Begierde, es zu verzehren, bebte, verneinte, worauf man ihm einen Teller mit kargen Tafelresten vorsetzte.

      Ich wünschte, ein wohlgenährter Volksökonom, in dessen Leib sich Essen und Trinken zu Galle wandeln, der kühlen Blutes und festen Herzens ist, hätte sehen können, wie Oliver sich auf diese Leckerbissen stürzte, die vom Hund verschmäht worden waren. Ich wünschte, er wäre Zeuge der schrecklichen Gier gewesen, in der Oliver die Stücke mit der ganzen Wildheit eines Ausgehungerten entzweiriss. Nur eines würde mich noch mehr erfreuen, nämlich den Volksökonomen die gleiche Mahlzeit mit demselben Genuss verzehren zu sehen.

      »Nun«, fragte die Frau des Leichenbestatters, als Oliver mit seinem Abendbrot, das sie mit stillem Entsetzen und bangen Ahnungen, was seinen zukünftigen Appetit anging, verfolgt hatte, zu Ende war, »bist du fertig?«

      Da sich nichts Essbares mehr in Reichweite befand, gab Oliver eine bejahende Antwort.

      »Dann komm mit«, befahl Mrs. Sowerberry, nahm eine trübe schmutzige Lampe und führte ihn die Treppe hinauf, »dein Bett ist unterm Ladentisch. Es macht dir doch nichts aus, bei den Särgen zu schlafen, oder? Ist ohnehin egal, woanders ist kein Platz für dich. Na los, halt mich hier nicht die ganze Nacht auf!«

      Da zögerte Oliver nicht länger, sondern folgte gehorsam seiner neuen Herrin.

      Fünftes Kapitel

      Oliver trifft auf neue Gefährten. Er nimmt zum ersten Mal an einem Begräbnis teil und bildet sich eine ungünstige Meinung vom Gewerbe seines Lehrherrn.

      Oliver, der allein in der Werkstatt des Leichenbestatters zurückgeblieben war, stellte die Lampe auf eine Werkbank und schaute sich mit einem Gefühl von Furcht und Scheu verzagt um, was selbst viele Leute, die um einiges älter sind als er, voll und ganz verstehen werden. Ein noch nicht fertiggestellter Sarg, der auf schwarzen Böcken mitten in der Werkstatt stand, sah so düster und nach Tod aus, dass ihn jedesmal, wenn sein Blick auf diesen grausigen Gegenstand fiel, ein kalter Schauder durchlief, halb in der Erwartung, eine schreckliche Gestalt würde langsam ihren Kopf daraus erheben, damit er vor Entsetzen den Verstand verlöre. An der Wand lehnte in peinlicher Ordnung eine lange Reihe von Brettern aus Ulmenholz, die alle gleich zugeschnitten waren. In dem trüben Licht sahen sie aus wie Gespenster, die ihre Schultern hochgezogen und die Hände in die Hosentaschen gesteckt hatten. Sargbeschläge, Ulmenholzspäne, Nägel mit blanken Köpfen und Fetzen schwarzen Tuchs lagen verstreut auf dem Boden herum, und die Wand hinter dem Ladentisch zierte eine lebensechte Darstellung zweier Totenwächter in sehr steifen Hemdkragen, die vor der Tür eines Hauses ihren Dienst verrichteten, während sich aus der Ferne ein von vier Rappen gezogener Leichenwagen näherte. Die Werkstatt war eng und stickig, und die Luft schien vom Geruch der Särge verpestet. Der Winkel unter dem Ladentisch, wo man Olivers mit Wollfetzen gefüllte Matratze hingeworfen hatte, glich einem Grab.

      Doch das waren nicht die einzigen düsteren Gefühle, die Oliver bedrückten. Er befand sich allein an einem fremden Ort, und wir wissen alle, wie mutlos und verlassen sich selbst die Tapfersten von uns in einer derartigen Lage zuweilen fühlen. Der Junge besaß keine Angehörigen, um die er sich sorgen konnte, oder die sich um ihn sorgten. Weder verspürte er den Kummer einer jüngst erlebten Trennung, noch lastete die Abwesenheit eines geliebten und vertrauten Gesichts auf seinem Herzen. Aber dennoch war ihm das Herz schwer, und als er in sein enges Bett kroch, wünschte er, es wäre sein Sarg und er könne auf dem Friedhof zu einem seligen und ewigen Schlaf finden, während das hohe Gras über seinem Kopf wogte und das Läuten der tiefen Glocken ihn in seinem Schlummer besänftigte.

      Am Morgen wurde Oliver durch laute Tritte gegen die Ladentür aufgeweckt, die sich, bevor er hastig seine Kleider überstreifen konnte, wild und ungestüm wohl fünfundzwanzigmal wiederholten. Als er die Kette abnehmen wollte, verstummten die Füße, und eine Stimme erklang.

      »Mach die Tür auf, verstanden?«, schrie die Stimme, die zu den Füßen gehörte, die gegen die Tür getreten hatten.

      »Jawohl, Sir, sofort!«, erwiderte Oliver, entfernte die Kette und drehte den Schlüssel herum.

      »Bist wohl der neue Junge, was?«, fragte die Stimme durch das Schlüsselloch.

      »Jawohl, Sir«, erwiderte Oliver.

      »Wie alt bist du?«, erkundigte sich die Stimme.

      »Zehn, Sir«, erwiderte Oliver.

      »Dann werd ich dich vermöbeln, wenn ich reinkomm«, sagte die Stimme, »das wirste schon seh’n, du Armenhauslümmel!« Und nachdem sie dieses feste Versprechen gegeben hatte, begann die Stimme zu pfeifen.

      Oliver war schon zu oft dieser eben mit einem launigen Ausdruck bezeichneten Tätigkeit ausgeliefert gewesen, um auch nur den geringsten Zweifel daran zu hegen, dass der Besitzer der Stimme, wer immer es auch sein mochte, sein Versprechen höchst ehrenhaft einlösen werde. Mit zitternder Hand schob er den Riegel zurück und öffnete die Tür.

      Oliver schaute kurz die Straße hinauf, dann die Straße hinab, und schließlich auf die gegenüberliegende Seite, in der festen Annahme, der Unbekannte, der mit ihm durchs Schlüsselloch gesprochen hatte, sei ein paar Schritte gegangen, um sich aufzuwärmen, denn er sah niemanden, außer einem großen Jungen aus der Armenschule, der vor dem Haus auf einem Pfosten hockte und ein Butterbrot aß, das er mit einem Klappmesser in mundgerechte Stücke schnitt, die er mit großer Geschicklichkeit verzehrte.

      »Verzeihung, Sir«, sagte Oliver schließlich, als er sah, dass kein anderer Besucher auftauchte, »habt Ihr geklopft?«

      »Ich habe getreten«, erwiderte der Armenschüler.

      »Wollt Ihr einen Sarg, Sir?«, erkundigte sich Oliver unschuldig.

      Daraufhin schaute der Armenschüler ungeheuer grimmig drein und meinte, Oliver werde bald selbst einen brauchen, wenn er mit seinen Vorgesetzten weiterhin derlei Scherze treibe.

      »Du weiß wohl gar nich, wer ich bin, was, Armenhäusler?«, fuhr der Armenschüler fort, während er mit erbaulichem Ernst vom Pfosten herabstieg.

      »Nein, Sir«, antwortete Oliver.

      »Ich bin Mister Noah Claypole«, sagte der Armenschüler, »und du bist mir unterstellt. Nimm die Fensterläden runter, du fauler Lausebengel!«

      Mit diesen Worten versetzte Mr. Noah Claypole Oliver einen Tritt und betrat mit einer würdevollen Miene, die ihm alle Ehre machte, die Werkstatt. Für einen Jungen mit großem Kopf, kleinen Augen, plumper Gestalt und feistem Gesicht ist es ohnehin nicht einfach, würdevoll auszusehen, aber das gilt umso mehr, wenn sich zu diesen persönlichen Vorzügen obendrein noch eine rote Nase und kurze gelbe Kniebundhosen gesellen.

      Oliver wurde, als er den ersten Laden abgenommen und bei dem Versuch, unter dessen Gewicht auf einen kleinen Hof an der Seite des Hauses, wo sie tagsüber aufbewahrt wurden, zu wanken, eine Scheibe zerbrochen hatte, gnädigerweise von Noah unterstützt, der sich, nachdem er Oliver mit der Versicherung, dafür werde er sich »ein paar einfangen«, getröstet hatte, herabließ, ihm zu helfen. Bald darauf kam Mr. Sowerberry nach unten. Kurz nach ihm erschien auch Mrs. Sowerberry, und Oliver, der sich »ein paar einfing«, wie Noah richtig vorausgesagt hatte, folgte diesem jungen Herrn die Treppe hinab zum Frühstück.

      »Komm hier ans Feuer, Noah«, sagte Charlotte. »Ich hab dir’n