»Wohl wahr«, sagte der Leichenbestatter, »das hätten sie.«
»Diese Leute vom Gericht«, sagte Mr. Bumble und packte seinen Stock fester, wie es seine Gewohnheit war, wenn er sich in Rage redete, »sind allesamt ein verbildetes, gemeines Lumpenpack von Leisetretern.«
»Das sind sie«, stimmte der Leichenbestatter zu.
»Die ham nich so viel Ahnung vom wirklichen Leben oder von volkswirtschaftlichen Dingen«, sagte der Büttel und schnippte verächtlich mit den Fingern.
»Nicht so viel«, pflichtete der Leichenbestatter bei.
»Ich verabscheue sie«, sagte der Büttel und wurde ganz rot im Gesicht.
»Ich auch«, schloss sich der Leichenbestatter an.
»Und ich wünschte bloß, wir hätten solche aufsässigen Leute vom Gericht mal ein oder zwei Wochen im Armenhaus«, fuhr der Büttel fort, »die Regeln und Anordnungen des Vorstands würden ihr Mütchen schon kühlen.«
»Das täte ihnen wahrlich gut«, meinte der Leichenbestatter und lächelte zustimmend, um den wachsenden Zorn des aufgebrachten Gemeindedieners zu beschwichtigen.
Mr. Bumble nahm den Dreispitz ab, holte aus der Wölbung des Hutes ein Taschentuch hervor, wischte sich damit den Schweiß, den seine Erregung hervorgerufen hatte, von der Stirn, setzte den Hut wieder auf, wandte sich an den Leichenbestatter und fragte mit ruhigerer Stimme:
»Also, wie steht’s mit dem Jungen?«
»Oh«, erwiderte der Leichenbestatter, »nun, wisst Ihr, Mr. Bumble, ich zahle eine ganze Menge Armensteuer.«
»Soso«, bemerkte Bumble. »Und?«
»Und«, fuhr der Leichenbestatter fort, »da dachte ich mir, wenn ich so viel für sie zahle, hab ich auch das Recht, so viel aus ihnen rauszuholen, wie ich kann, Mr. Bumble, und da … da hab ich mir halt überlegt, den Jungen selbst zu nehmen.«
Mr. Bumble griff den Leichenbestatter am Arm und führte ihn in das Gebäude. Der Vorstand beriet sich fünf Minuten lang vertraulich mit Mr. Sowerberry, dann wurde vereinbart, Oliver solle noch am selben Abend »auf Probe« zu ihm gehen. Diese Floskel bedeutet bei einem Jungen aus dem Armenhaus, dass der Lehrherr, wenn er nach kurzer Probezeit feststellt, dass er aus dem Jungen mehr Arbeitskraft herausbekommt, als er Essen in ihn hineinsteckt, denselben für einige Jahre überlassen bekommt, um nach Belieben über ihn zu verfügen.
Als der kleine Oliver am Abend »den Herren« vorgeführt und davon unterrichtet wurde, dass er noch heute als Gehilfe zu einem Sargmacher gehen solle, und er, falls ihm das nicht passe oder er jemals ins Armenhaus zurückkehre, zur See geschickt werde, um entweder zu ertrinken oder den Schädel eingeschlagen zu bekommen, zeigte dieser so wenig Gemütsregung, dass sie ihn einhellig einen verstockten kleinen Halunken hießen und Mr. Bumble befahlen, ihn unverzüglich fortzuschaffen.
Obwohl es nur allzu natürlich war, dass die Vorstände, mehr als irgendwer sonst auf der Welt, angesichts des geringsten Anzeichens der Gefühllosigkeit von tugendhaftem Erstaunen und Entsetzen ergriffen wurden, so lagen sie in diesem besonderen Fall jedoch falsch. Es verhielt sich einfach so, dass Oliver nicht zu wenig Gefühl besaß, sondern eher zu viel, und sich auf dem besten Weg befand, durch die schlechte Behandlung, die er erfahren hatte, für den Rest seines Lebens auf den verrohten Zustand tierischen Stumpfsinns herabgewürdigt zu werden. Er vernahm die Nachricht über sein neues Schicksal ohne einen Ton zu sagen, und als man ihm sein Gepäck in die Hand drückte – was nicht schwer zu tragen war, da alles in einen braunen Pappkarton passte, einen halben Fuß im Quadrat und drei Zoll hoch –, zog er sich die Mütze tief ins Gesicht, hängte sich ein weiteres Mal an Mr. Bumbles Ärmelaufschlag und wurde von diesem Würdenträger an den Schauplatz seiner nächsten Leiden geführt.
Eine Weile zog Mr. Bumble Oliver hinter sich her, ohne ihn zu beachten oder anzusprechen, denn er trug seinen Kopf hoch erhoben, wie es einem Büttel geziemt, und da es ein windiger Tag war, wurde der kleine Oliver immer vollständig von Mr. Bumbles Rockschößen eingehüllt, wenn sie, von einer Bö erfasst, einen Blick auf die ganze Pracht seiner zerknitterten Weste und mausgrauen Kniehosen aus Plüsch freigaben. Als sie sich ihrem Ziel näherten, hielt es Mr. Bumble jedoch für angebracht, herabzuschauen, um zu prüfen, ob sich der Junge in geeignetem Zustand für die Musterung durch seinen neuen Herrn befinde, was er dann auch mit einer dazu passenden und angemessenen Miene gnädiger Gönnerschaft tat.
»Oliver!«, rief Mr. Bumble.
»Ja, Sir?«, fragte Oliver leise mit bebender Stimme.
»Schieb dir die Mütze aus dem Gesicht und halte deinen Kopf gerade, Junge.«
Obwohl Oliver sofort tat, wie ihm geheißen, und sich mit dem Rücken seiner freien Hand rasch über die Augen wischte, hing noch eine Träne darin, als er zum Büttel aufsah. Unter Mr. Bumbles strengem Blick rollte sie ihm die Wange hinab. Ihr folgte eine weitere und dann noch eine. Das Kind versuchte, sich mit aller Macht zusammenzureißen, doch vergebens. Oliver entzog Mr. Bumble die andere Hand, schlug beide vors Gesicht und weinte, bis ihm die Tränen durch die dünnen, knochigen Finger rannen.
»Also wirklich!«, rief Mr. Bumble aus und blieb abrupt stehen, um seinem kleinen Schutzbefohlenen einen höchst gehässigen Blick zuzuwerfen. »Also wirklich! Von allen undankbaren und ungezogenen Jungen, die ich je gekannt habe, Oliver, bist du der …«
»Nein, nein, Sir«, schluchzte Oliver und umklammerte die Hand, die den nur allzu vertrauten Stock hielt, »nein, Sir, nein, ich will ja brav sein, ganz ehrlich, Sir! Ich bin doch bloß ein kleiner Junge, Sir, und so … so …«
»So was?«, begehrte Mr. Bumble verwundert zu wissen.
»So allein, Sir! So ganz allein!«, weinte das Kind. »Alle hassen mich. Oh, Sir, seid nicht böse mit mir!«
Das Kind schlug sich mit der Hand gegen die Brust und schaute seinem Begleiter mit Tränen großer Seelenpein ins Gesicht.
Mr. Bumble betrachtete einen Moment lang leicht erstaunt Olivers klägliche und verzweifelte Miene, räusperte sich drei-, viermal, und nachdem er mit belegter Stimme etwas von »diesem lästigen Husten« gebrummt hatte, hieß er Oliver, sich die Tränen zu trocknen und ein braver Junge zu sein. Dann nahm er wieder seine Hand und ging schweigend mit ihm weiter.
Der Leichenbestatter hatte soeben die Läden seiner Werkstatt geschlossen und nahm beim passenderweise trüben Licht einer Kerze einige Einträge in sein Kassenbuch vor, als Mr. Bumble eintrat.
»Aha!«, rief der Leichenbestatter, hielt mitten in einem Wort beim Schreiben inne und schaute vom Buch auf. »Seid Ihr’s, Bumble?«
»Höchstpersönlich, Mr. Sowerberry«, antwortete der Büttel. »Hier! Ich habe den Jungen mitgebracht.«
Oliver machte einen Diener.
»Oh, das ist also der Junge, was?«, fragte der Leichenbestatter und hob die Kerze über den Kopf, um Oliver besser in Augenschein nehmen zu können. »Mrs. Sowerberry, wollt Ihr die Güte haben, einen Augenblick herzukommen, meine Liebe?«
Aus einem kleinen Zimmer hinter der Werkstatt tauchte Mrs. Sowerberry auf, in Gestalt einer kleingewachsenen, dürren, verkniffenen Frau mit zänkischer Miene.
»Meine Liebe«, sagte Mr. Sowerberry ehrerbietig, »das ist der Junge aus dem Armenhaus, von dem ich Euch erzählt habe.«
Oliver machte wieder einen Diener.
»Ach herrje«, rief die Frau des Leichenbestatters, »ist der aber klein!«
»Nun, er ist ein wenig klein«, erwiderte Mr. Bumble und schaute Oliver an, als sei es dessen Schuld, nicht größer zu sein. »Er ist klein, das lässt sich nicht leugnen. Aber er wird wachsen, Mrs. Sowerberry, er wird wachsen.«
»Ha! Das glaube ich gern«, entgegnete die Dame schnippisch, »von unserem Essen