»Und wann werdet Ihr einen vollständigen, wahrhaftigen und ausführlichen Bericht über Leben und Abenteuer des Oliver Twist zu hören bekommen?«, fragte Grimwig am Ende der Mahlzeit Mr. Brownlow, mit einem Seitenblick auf Oliver, als er den Gesprächsgegenstand wieder aufnahm.
»Morgen vormittag«, antwortete Mr. Brownlow. »Ich möchte dann lieber mit ihm alleine sein. Komm morgen früh um zehn Uhr zu mir herauf, mein Guter.«
»Ja, Sir«, erwiderte Oliver. Seine Antwort kam leicht zögerlich, weil er verwirrt war, dass Mr. Grimwig ihn so scharf ansah.
»Ich will Euch mal was sagen«, flüsterte dieser Herr Mr. Brownlow zu, »er wird morgen früh nicht heraufkommen. Ich habe sein Zögern bemerkt. Er macht Euch was vor, mein lieber Freund.«
»Ich bin überzeugt, dass er es nicht tut«, entgegnete Mr. Brownlow leidenschaftlich.
»Wenn er’s nicht tut«, sagte Mr. Grimwig, »dann will ich …«, und stieß mit dem Stock auf den Boden.
»Ich bürge mit meinem Leben für die Aufrichtigkeit dieses Jungen!«, erwiderte Mr. Brownlow und klopfte auf den Tisch.
»Und ich mit meinem Kopf für seine Falschheit!«, rief Mr. Grimwig und klopfte ebenfalls auf den Tisch.
»Wir werden ja sehen«, sagte Mr. Brownlow, seinen aufsteigenden Zorn bezwingend.
»Das werden wir«, entgegnete Mr. Grimwig mit einem herausfordernden Lächeln, »ja, das werden wir.«
Wie das Schicksal so spielte, kam in diesem Augenblick zufällig Mrs. Bedwin mit einem kleinen Packen Bücher herein, die Mr. Brownlow am Vormittag bei demselben Buchhändler erworben hatte, den wir bereits aus unserer Geschichte kennen, legte sie auf den Tisch und wollte das Zimmer wieder verlassen.
»Der Botenjunge soll noch warten, Mrs. Bedwin«, bat Mr. Brownlow, »ich möchte, dass er etwas mit zurücknimmt.«
»Er ist bereits wieder fort, Sir«, erwiderte Mrs. Bedwin.
»Dann ruft ihn zurück«, sagte Mr. Brownlow, »es ist wichtig. Er ist ein armer Mann, und die Bücher sind noch nicht bezahlt. Außerdem sollen ein paar andere Bücher zurückgebracht werden.«
Die Haustür wurde geöffnet, Oliver lief in die eine Richtung, das Dienstmädchen in die andere, und Mrs. Bedwin blieb auf der Schwelle stehen und rief nach dem Botenjungen, aber es war kein Botenjunge zu sehen. Oliver und das Mädchen kehrten ganz außer Atem zurück, nur um zu berichten, dass sie keine Kunde von ihm hatten.
»Ach du meine Güte, das tut mir aber leid«, sagte Mr. Brownlow, »vor allem wollte ich diese Bücher noch heute abend zurückgeben.«
»Dann schickt doch Oliver«, meinte Mr. Grimwig mit einem ironischen Lächeln, »er wird sie ganz bestimmt wohlbehalten abliefern.«
»Ja, ich will gehen, wenn Ihr erlaubt, Sir«, sagte Oliver. »Ich werde auch den ganzen Weg rennen, Sir.«
Der alte Herr wollte gerade einwenden, dass Oliver auf keinen Fall gehen dürfe, als ein höchst gehässiges Hüsteln Mr. Grimwigs ihn zu dem Entschluss brachte, dass er doch gehen und durch die prompte Erledigung seines Auftrages beweisen solle, wie ungerechtfertigt Grimwigs Verdächtigungen seien, zumindest in diesem Punkt.
»Du darfst gehen, mein Lieber«, sagte der alte Herr. »Die Bücher liegen auf dem Stuhl neben meinem Tisch. Geh sie holen.«
Oliver, der froh war, sich nützlich machen zu können, kam dienstbeflissen mit den Büchern unterm Arm zurück und wartete, die Mütze in der Hand, welche Botschaft man ihm auftragen würde.
»Richte aus«, sagte Mr. Brownlow mit festem Blick auf Grimwig, »richte aus, dass du diese Bücher zurückbringst und gekommen bist, um die vier Pfund zehn zu zahlen, die ich ihm schulde. Hier ist eine Fünfpfundnote, also bringst du zehn Shilling Wechselgeld zurück.«
»Ich werde keine zehn Minuten brauchen, Sir«, erwiderte Oliver eifrig. Nachdem er den Geldschein in seine Jackentasche geknöpft und die Bücher sorgfältig unter den Arm gesteckt hatte, verbeugte er sich ehrerbietig und verließ das Zimmer. Mrs. Bedwin begleitete ihn bis zur Haustür, beschrieb ihm den kürzesten Weg, nannte ihm den Namen des Buchhändlers und der Straße, woraufhin Oliver bestätigte, alles verstanden zu haben. Nachdem sie ihm noch mehrmals eingeschärft hatte, aufzupassen und sich nicht zu erkälten, gestattete die alte Dame ihm schließlich zu gehen.
»Gott schütze diesen lieben Jungen!«, rief die alte Dame, als sie ihm nachschaute. »Es ist mir so gar nicht recht, ihn aus den Augen zu lassen.«
In diesem Moment sah sich Oliver fröhlich um und nickte ihr zu, bevor er um die Ecke verschwand. Die alte Dame erwiderte lächelnd seinen Gruß, schloss die Tür und ging wieder auf ihr Zimmer.
»Wollen wir mal sehen, in spätestens zwanzig Minuten wird er zurück sein«, sagte Mr. Brownlow, zog seine Uhr hervor und legte sie auf den Tisch. »Bis dahin wird es dunkel sein.«
»Oh! Ihr rechnet also wirklich damit, dass er zurückkommt, was?«, erkundigte sich Mr. Grimwig.
»Ihr nicht?«, fragte Mr. Brownlow lächelnd.
Der Geist des Widerspruchs regte sich augenblicklich in Mr. Grimwigs Brust, und er wurde durch das zuversichtliche Lächeln seines Freundes noch weiter angestachelt.
»Nein«, rief er und schlug mit der Faust auf den Tisch, »tue ich nicht. Der Bursche hat einen nagelneuen Anzug auf dem Leib, einen Packen wertvoller Bücher unterm Arm und eine Fünfpfundnote in der Tasche. Er wird zu seinen alten Diebesfreunden laufen und Euch auslachen. Wenn der Bursche jemals in dieses Haus zurückkehrt, will ich meinen Kopf fressen, Sir.«
Mit diesen Worten zog er seinen Stuhl näher an den Tisch, und da saßen die beiden Freunde nun, in stummer Erwartung, die Uhr zwischen sich.
Eines ist erwähnenswert, da es die Bedeutung, die wir unserem eigenen Urteil beimessen, verdeutlicht, und auch den Stolz, mit dem wir unsere raschen und voreiligen Schlüsse ziehen, dass nämlich Mr. Grimwig, obwohl keineswegs ein bösartiger Mensch, und obwohl es ihm aufrichtig leidgetan hätte, seinen geschätzten Freund betrogen und enttäuscht zu sehen, in diesem Augenblick allen Ernstes und inständig hoffte, Oliver Twist möge nicht zurückkehren.
Es wurde so dunkel, dass die Zahlen auf dem Ziffernblatt kaum noch zu erkennen waren, doch die beiden alten Herrn blieben dort sitzen, schweigend, die Uhr zwischen sich.
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