»Haste gehört, Armenhäusler?«, fragte Noah Claypole.
»Mein Gott, Noah«, rief Charlotte, »was für’n ulkiger Kerl du doch bist! Warum lässte den Jungen nich in Ruh?«
»Ihn in Ruh lassen!«, entgegnete Noah. »Es lassen ihn doch schon alle in Ruh. Weder sein Vater noch seine Mutter werden ihn je belästigen. Seine ganze Familie lässt ihn tun, was er will, oder nich, Charlotte? Hehehe!«
»Ach, du komischer Vogel!«, sagte Charlotte und brach in herzhaftes Gelächter aus, in das Noah einstimmte, und dann schauten sie beide hämisch auf den armen Oliver Twist, der in der kältesten Ecke des Raumes zitternd auf einer Kiste hockte und seine altbackenen Brocken aß, die man eigens für ihn aufbewahrt hatte.
Noah war ein Junge aus der Armenschule, aber keine Waise aus dem Armenhaus. Er war kein uneheliches Kind, denn er konnte seine Abstammung bis zu seinen Eltern zurückverfolgen, die ganz in der Nähe wohnten. Seine Mutter war Waschfrau, sein Vater ein dem Trunke ergebener Soldat, der mit einem Holzbein und einem täglichen Gnadensold von zweieinhalb Pence Komma irgendwas aus dem Dienst entlassen worden war. Unter den Ladenburschen in der Nachbarschaft gab es seit langem den Brauch, Noah auf offener Straße mit schmähenden Beinamen wie »Lederhose«, »Lumpenschule« und dergleichen zu belegen, und Noah hatte es ohne Widerrede ertragen. Aber jetzt, wo ihm das Schicksal einen unehelichen Waisen gesandt hatte, auf den noch der Niedrigste verächtlich mit dem Finger zeigen konnte, zahlte er es ihm mit Zinsen heim. Das bietet trefflichen Stoff zum Nachdenken. Es zeigt uns, was für ein wunderbares Ding die menschliche Natur zuweilen ist und wie sich die gleichen liebenswerten Eigenschaften ohne Unterschied sowohl beim vornehmsten Lord wie auch beim elendsten Armenschüler finden.
Oliver lebte inzwischen etwa drei oder vier Wochen bei dem Leichenbestatter. Mr. und Mrs. Sowerberry nahmen, die Läden waren bereits geschlossen, in der kleinen hinteren Stube ihr Abendbrot zu sich, als Mr. Sowerberry, nachdem er mehrmals schüchtern zu seiner Frau hinübergeschaut hatte, anhob:
»Meine Liebe …«
Er wollte noch mehr sagen, aber als Mrs. Sowerberry mit ungnädiger Miene aufblickte, verstummte er jäh.
»Ja?«, fragte Mrs. Sowerberry unwirsch.
»Nichts, meine Liebe, gar nichts«, antwortete Mr. Sowerberry.
»Bah, wie gemein!«, rief Mrs. Sowerberry.
»Aber nicht doch, meine Liebe«, erwiderte Mr. Sowerberry unterwürfig, »ich dachte, Ihr wolltet es nicht hören, meine Liebe. Ich wollte nur sagen …«
»Ach, verratet mir bloß nicht, was Ihr sagen wolltet«, unterbrach Mrs. Sowerberry. »Ich bin doch unwichtig, beachtet mich einfach nicht. Ich will Euch gewiss nicht Eure Geheimnisse entlocken.« Bei diesen Worten stieß Mrs. Sowerberry ein hysterisches Lachen aus, was nichts Gutes verhieß.
»Aber meine Liebe«, sagte Sowerberry, »ich wollte Euch um Rat fragen.«
»Nein, nein, fragt nicht mich«, entgegnete Mrs. Sowerberry geziert, »fragt jemand anderen.« Hier folgte ein weiteres hysterisches Lachen, das Mr. Sowerberry sehr beängstigte. Dies ist eine altbewährte und weitverbreitete eheliche Vorgehensweise, die zumeist erfolgreich ist. Sie nötigte Mr. Sowerberry unversehens dazu, als besondere Vergünstigung zu erbitten, etwas sagen zu dürfen, das Mrs. Sowerberry nur allzu begierig zu hören wünschte. Nach einem weiteren kurzen Wortwechsel von noch nicht einmal einer Dreiviertelstunde Dauer wurde die Erlaubnis höchst gnädig erteilt.
»Es geht bloß um den kleinen Twist, meine Liebe«, sagte Mr. Sowerberry. »Der Junge sieht prächtig aus.«
»Kein Wunder, er isst ja auch genug«, bemerkte die Dame.
»Sein Gesicht hat so einen wehmütigen Ausdruck«, sprach Mr. Sowerberry weiter, »der sehr anrührend wirkt. Er würde einen vortrefflichen Leichenzügler abgeben, meine Liebe.«
Mrs. Sowerberry schaute nicht wenig verwundert auf. Das bemerkte Mr. Sowerberry natürlich, und so fuhr er, ohne der guten Dame Gelegenheit zu Einwänden zu geben, fort:
»Ich meine keinen richtigen Leichenzügler für die Erwachsenen, meine Liebe, sondern nur für die Kinder. Es wäre wirklich etwas Neues, einen Leichenzügler in passender Größe zu haben. Verlasst Euch drauf, meine Liebe, es würde den allerbesten Eindruck machen.«
Mrs. Sowerberry, die einigen Sachverstand besaß, was das Bestattungsgewerbe betraf, war von der Originalität dieses Einfalls sehr angetan, aber da es unter den gegebenen Umständen ihrer Würde abträglich gewesen wäre, dieses einzugestehen, fragte sie lediglich mit einiger Schärfe, warum ihrem Gatten ein solch naheliegender Gedanke nicht schon eher in den Sinn gekommen sei. Da Mr. Sowerberry dies ganz richtig als Zustimmung zu seinem Vorschlag auslegte, wurde umgehend beschlossen, Oliver auf der Stelle in die Geheimnisse des Gewerbes einzuweihen, zu welchem Zwecke er seinen Lehrherrn bei der allernächsten Gelegenheit, wenn dessen Dienste benötigt würden, begleiten solle.
Die Gelegenheit ließ nicht lange auf sich warten. Am nächsten Morgen betrat Mr. Bumble eine halbe Stunde nach dem Frühstück die Werkstatt, lehnte seinen Stock gegen den Ladentisch und holte seine große lederne Brieftasche hervor, der er ein kleines Schnipsel Papier entnahm, um es Mr. Sowerberry zu überreichen.
»Aha!«, rief der Leichenbestatter und warf einen neugierigen Blick darauf. »Die Bestellung für einen Sarg, was?«
»Erst für einen Sarg, dann für ein Armenbegräbnis«, erwiderte Mr. Bumble und zog den Riemen der ledernen Brieftasche, die, wie er selbst, recht dickleibig war, wieder fest.
»Bayton«, las der Leichenbestatter und schaute von dem Schnipsel Papier zu Mr. Bumble. »Diesen Namen habe ich noch nie gehört.«
Bumble schüttelte den Kopf, als er antwortete: »Widerborstige Leute, Mr. Sowerberry, äußerst widerborstige Leute. Obendrein noch stolz, wie ich leider sagen muss, Sir.«
»Stolz, was?«, entfuhr es Mr. Sowerberry höhnisch. »Na, das ist ja wohl das Letzte.«
»Ja, unerträglich«, erwiderte der Büttel. »Geradezu übelkeiterregend, Mr. Sowerberry!«
»So ist es«, pflichtete ihm der Leichenbestatter bei.
»Wir haben erst vorletzte Nacht überhaupt von der Familie erfahren«, sagte der Büttel, »und auch nur deshalb, weil eine Frau, die im selben Haus logiert, bei den Behörden vorstellig geworden war, damit sie den Amtsarzt schicken, um sich eine Weibsperson anzusehen, der es sehr schlecht geht. Der Doktor war jedoch gerade zum Essen, aber sein Gehilfe, ein blitzgescheiter Kerl, hat ihnen auf der Stelle in einem Fläschchen für Schuhwichse etwas Medizin geschickt.«
»Ah, das nenne ich kurz entschlossen gehandelt«, bemerkte der Leichenbestatter.
»Kurz entschlossen, das will ich meinen«, erwiderte der Büttel. »Aber was ist die Folge, wie undankbar verhalten sich daraufhin diese Störenfriede, Sir? Der Gatte lässt ausrichten, die Medizin sei für das Gebrechen seiner Frau nicht geeignet, also würde sie sie nicht nehmen … sagt, sie würde sie nicht nehmen, Sir! Gute, starke, gesunde Medizin, wie sie erst eine Woche zuvor zwei irischen Arbeitern und einem Kohlenträger verabreicht worden war … kriegen sie umsonst, samt nem Fläschchen für Schuhwichse … und er lässt ausrichten, sie würde sie nicht nehmen, Sir!«
Wie diese Greueltat Mr. Bumble mit aller Macht vor Augen trat, schlug er mit seinem Stock fest auf den Ladentisch und lief vor Empörung rot an.
»Also wirklich«, rief der Leichenbestatter, »das hätte ich ja nie-hie-mals …«
»Niemals, Sir!«, stieß der Büttel hervor. »Ihr nicht, und auch sonst niemand, aber jetzt ist sie tot, und wir müssen sie beerdigen, so lautet die Vorschrift, und je eher die Sache erledigt wird, desto besser.«
Bei diesen Worten setzte sich Mr. Bumble den Dreispitz im Eifer seiner amtlichen Erregung verkehrt herum auf und stürmte aus der Werkstatt.
»Tja, Oliver, er war so aufgebracht, dass er nicht einmal