Bedürfte ich noch eines weiteren Beweises für die strikt philosophische Natur des Verhaltens dieser beiden jungen Herrn in ihrer misslichen Lage, fände ich ihn sofort in dem Umstand (ebenfalls in den vorigen Kapiteln nachzulesen), dass sie die Verfolgung abbrachen, sobald alle Aufmerksamkeit auf Oliver gerichtet war, und sich unverzüglich auf kürzestem Weg nach Hause begaben. Auch wenn ich nicht behaupten möchte, es sei die übliche Gewohnheit namhafter und gelehrter Weiser, den Weg zu einer gewichtigen Schlussfolgerung kurz zu halten – tatsächlich begeben sie sich eher auf Umwege, indem sie sich in holprigen Umschreibungen und Abschweifungen ergehen, ganz so, wie Betrunkene es unter dem Druck eines allzu großen Mitteilungsbedürfnisses gern zu tun pflegen –, so möchte ich dennoch behaupten, und zwar ganz entschieden, dass es die eingefleischte Gewohnheit vieler bedeutender Philosophen ist, bei der Darlegung ihrer Theorien große Weisheit und Voraussicht walten zu lassen, indem sie sich gegen jede erdenkliche Möglichkeit absichern, dass ihre Schlussfolgerungen in irgendeiner Weise auch für sie selbst gelten könnten. Also darf man im Kleinen Unrecht begehen, um im Großen Recht zu bewirken, und man darf jegliches Mittel anwenden, das der angestrebte Zweck letztlich heiligt, denn es bleibt allein dem betreffenden Philosophen überlassen, das Ausmaß des Rechts oder das Ausmaß des Unrechts oder gar die Unterscheidung von beiden durch eine klare, umfassende und unbestechliche Prüfung seines besonderen Falles zu bestimmen und festzulegen.
Erst nachdem die beiden Jungen in hohem Tempo durch ein verschlungenes Labyrinth enger Straßen und Gässchen gerannt waren, trauten sie sich in einem niedrigen, dunklen Torweg wie auf Verabredung anzuhalten. Hier blieben sie nur so lange still, bis sie wieder genug Atem zum Sprechen geschöpft hatten, als Meister Bates auch schon einen freudigen Schrei ausstieß, sich von einem unbändigen Lachanfall gepackt auf einen Türtritt warf und sich dort ganz entfesselt vor Heiterkeit herumwälzte.
»Was’n mit dir los?«, erkundigte sich der Dodger.
»Hahaha!«, brüllte Charley Bates.
»Mach nich so’n Lärm«, ermahnte ihn der Dodger und schaute sich wachsam um. »Willst wohl geschnappt werden, du Blödmann!«
»Ich kann nix dafür«, sagte Charley. »Ich kann nix dafür. Zu komisch, wie er stiften ging, um die Ecken fegte und gegen Pfähle knallte, sich wieder aufrappelte und weiterrannte, als sei er grad wie sie aus Eisen. Und ich immer schreiend hinter ihm her, die Rotzfahne in der Tasche … ach, herrje!« Die lebhafte Phantasie des Meister Bates malte ihm die Szene in den schönsten Farben aus, so dass er an dieser Stelle wieder auf dem Türtritt umherrollte und noch lauter lachte als zuvor.
»Was wird Fagin wohl sagen?«, wollte der Dodger wissen, der einen Augenblick der Atemlosigkeit seines Freundes nutzte, um diese Frage zu stellen.
»Was?«, fragte Charley Bates.
»Ja, was?«, wiederholte der Dodger.
»Na, was soll er schon sagen?«, entgegnete Charley Bates, dessen Fröhlichkeit mit einem Schlag verflogen war, da ihn das Benehmen des Dodgers beunruhigte. »Was soll er schon sagen?«
Mr. Dawkins pfiff eine ganze Weile vor sich hin, nahm dann seinen Hut ab, kratzte sich am Kopf und nickte dreimal.
»Was meinst du?«, fragte Charley.
»Lirum larum Löffelstiel, für zwei Penny gibt’s nich viel, reiche Leute essen Speck, arme Leute fressen Dreck«, erwiderte der Dodger mit einem leicht hämischen Grinsen auf seinem listigen Gesicht.
Das war zwar eine Antwort, erklärte aber nicht viel. So empfand es zumindest Charley Bates, der abermals fragte: »Was meinst du?«
Der Dodger sagte nichts weiter, sondern setzte sich den Hut wieder auf, raffte die langen Schöße seines Rocks unter den Arm, beulte mit der Zunge eine Wange aus, schlug sich sachte, aber vielsagend ein halbes Dutzend Mal auf den Nasenrücken, machte auf dem Absatz kehrt und stahl sich durch das Gässchen davon. Meister Bates folgte ihm mit nachdenklicher Miene.
Wenige Minuten, nachdem dieses Gespräch stattgefunden hatte, störte das Geräusch von Schritten auf den knarrenden Treppenstufen den fröhlichen alten Herrn auf, der mit einer Zervelatwurst und einem kleinen Laib Brot in der Linken, einem Taschenmesser in der Rechten und einem Zinnkrug auf dem Dreifuß neben sich am Feuer saß. Ein verschlagenes Lächeln lag auf seinem Gesicht, als er sich umdrehte, mit stechendem Blick unter den buschigen roten Augenbrauen hervorsah, sein Ohr Richtung Tür wandte und aufmerksam lauschte.
»Nanu, was ist das?«, raunte Fagin, und seine Miene verfinsterte sich. »Nur zwei? Wo ist der dritte? Sie werden doch keinen Ärger bekommen haben? Horch!«
Die Schritte kamen näher, erreichten den Treppenabsatz. Langsam ging die Tür auf, der Dodger und Charley Bates traten ein und schlossen sie hinter sich.
Dreizehntes Kapitel
Der verständige Leser wird mit einigen neuen Personen bekanntgemacht und erfährt dabei verschiedene erquickliche Dinge, die zu unserer Geschichte gehören.
»Wo ist Oliver?«, fragte der erzürnte Fagin, der sich drohenden Blicks erhob. »Wo ist der Knabe?«
Die jungen Diebe beäugten ihren Meister, als fürchteten sie seine Gewalt, und sahen einander voller Unbehagen an. Aber sie gaben keine Antwort.
»Was ist dem Jungen geschehen?«, fragte Fagin, packte den Dodger fest am Kragen und bedachte ihn mit schrecklichen Flüchen. »Rede endlich, oder ich erwürge dich!«
Mr. Fagin sah keineswegs aus, als würde er spaßen, so dass Charley Bates, dem es für alle Fälle klug erschien, auf der sicheren Seite zu sein, und der es durchaus nicht für unwahrscheinlich hielt, möglicherweise als nächster erdrosselt zu werden, auf die Knie fiel und einen lauten, lang anhaltenden Schrei ausstieß – irgendetwas zwischen tollwütigem Stier und Heulboje.
»Willst du wohl reden«, donnerte der alte Hehler und schüttelte den Dodger so heftig, dass es ein großes Wunder schien, warum dieser nicht aus seinem weiten Gehrock fiel.
»Na, die Greifer haben ihn geschnappt, das is alles«, sagte der Dodger störrisch. »Und jetzt lass mich endlich los!« Dabei wand er sich mit einem Ruck aus seinem weiten Gehrock heraus, der in den Händen des Alten hängenblieb. Dann schnappte sich der Dodger die Röstgabel und führte einen Stoß gegen die Weste des fröhlichen alten Herrn, der, hätte er getroffen, den Alten mehr Fröhlichkeit gekostet haben würde, als in ein oder zwei Monaten so ohne weiteres zu ersetzen gewesen wären.
Fagin sprang in seiner Not zurück, weitaus behender, als man es bei einem Mann von solch augenscheinlicher Hinfälligkeit erwartet hätte, griff den Krug und wollte ihn seinem Angreifer an den Kopf schleudern. Doch da in diesem Augenblick Charley Bates mit einem besonders grässlichen Geheul alle Aufmerksamkeit auf sich zog, änderte er plötzlich sein Ziel und warf den Krug mit voller Wucht nach diesem jungen Herrn.
»He, was zum Teufel is’n hier los?«, knurrte eine tiefe Stimme. »Wer schmeißt da nach mir? Zum Glück hab ich nur das Bier und nich den Krug abgekriegt, sonst hätt ich jetzt jemand vertrimmt. Hätt ich ja wissen könn, dass nur’n verfluchter, reicher, diebischer und verlogener alter Hehler sich leisten kann, auch’n andres Getränk als Wasser wegzuschütten, wo er obendrein seine Wasserrechnung eh nie bezahlt. Was soll das, Fagin? Gottverdammich, wenn mein Halstuch nich voller Bierflecken is! Komm schon, du elender Wurm, was bleibste denn da draußen, schämste dich vielleicht für deinen Herrn? Komm endlich rein!«
Der Mann, der diese Worte knurrte, war ein kräftig gebauter Bursche von ungefähr fünfunddreißig Jahren, der einen Gehrock aus schwarzem Baumwollsamt trug, dazu verdreckte graubraune Kniehosen, geschnürte Halbstiefel und graue Baumwollstrümpfe, in denen ein paar stämmige Beine mit dicken Waden steckten – die Sorte von Beinen, die in einem derartigen Aufzug immer so aussehen, als würde ihnen ohne die Zierde einer Garnitur Fußfesseln etwas fehlen. Auf dem Kopf trug er einen braunen Hut, und um den Hals ein schmutziges buntes Tuch, mit dessen langen ausgefransten