Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Charles Dickens. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charles Dickens
Издательство: Bookwire
Серия: Reclam Taschenbuch
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783159618814
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nicht weiterverfolgen.«

      »Jetzt müsst Ihr sie auch zur Verhandlung bringen, Sir«, sagte der Mann. »Der Herr Richter wird jeden Augenblick frei sein. Rein mit dir, du kleiner Galgenstrick.«

      Letzteres war eine Aufforderung an Oliver, durch eine Tür zu treten, die der Mann aufgeschlossen hatte, während er noch sprach, und die in eine kleine gemauerte Zelle führte. Dort wurde Oliver durchsucht und, als man nichts fand, eingesperrt.

      Die Zelle glich in Größe und Form dem Lichtschacht eines Kellers, war jedoch nicht so hell. Sie befand sich an diesem Montagmorgen in einem unerträglich dreckigen Zustand, da sie bis Samstagnacht mit sechs Betrunkenen belegt gewesen war, die jetzt anderswo einsaßen. Aber das ist noch gar nichts. Auf unseren Polizeiwachen werden jede Nacht Männer und Frauen aufgrund der nichtigsten Anschuldigungen – man achte auf den genauen Wortsinn – in Kerker gesperrt, gegen die jene, die in Newgate mit den schlimmsten Verbrechern belegt werden, die angeklagt, für schuldig befunden und zum Tode verurteilt wurden, wahre Paläste sind. Jeder, der das bezweifelt, mag sich ruhig persönlich davon überzeugen.

      Als die Tür ins Schloss fiel, blickte der alte Herr beinahe ebenso kläglich drein wie Oliver. Mit einem Seufzer wandte er sich dem Buch zu, das die unschuldige Ursache der ganzen Aufregung gewesen war.

      »Da ist etwas in dem Gesicht des Jungen«, sagte der alte Herr, als er langsam fortging und sich mit dem Einband des Buches nachdenklich ans Kinn klopfte, »etwas, das mich berührt und anzieht. Ist er vielleicht gar unschuldig? Er sieht so aus … Herrje!« Der alte Herr blieb wie angewurzelt stehen, blickte zum Himmel empor und rief: »Bei meiner Seel! Woher kenne ich diesen Gesichtsausdruck bloß?«

      Nachdem er eine Weile überlegt hatte, ging der alte Herr, noch immer nachdenklich dreinschauend, in ein kleines, zum Hof gelegenes Vorzimmer. Dort zog er sich in eine Ecke zurück und beschwor vor seinem geistigen Auge ein ganzes Amphitheater an Gesichtern, die viele Jahre lang hinter einem dunklen Vorhang verborgen gewesen waren. »Nein«, sagte der alte Herr kopfschüttelnd, »es muss Einbildung sein.«

      Er ging noch einmal alle durch. Er rief sie sich vor Augen, doch war es nicht leicht, den Schleier, der sie so lange verhüllt hatte, zu lüften. Da gab es Gesichter von Freunden und Feinden, und von vielen, die beinahe Fremde waren und aufdringlich aus der Menge hervorstarrten, es gab Gesichter von blühenden jungen Mädchen, die jetzt alte Frauen waren, es gab Gesichter, die das Grab verwandelt und verschüttet hatte, die aber der Geist, der mächtiger ist als das Grab, wieder in einstige Frische und Schönheit kleidete, er verlieh den Augen wieder ihren Glanz und dem Lächeln seine Heiterkeit, er ließ die Seele durch die irdene Hülle strahlen und raunte von Anmut, die über die Gruft hinaus besteht: nur verwandelt, um erhöht, und der Erde nur abhanden gekommen, um als Licht zu scheinen und den Pfad zum Himmel mild und sanft zu erleuchten.

      Aber der alte Herr konnte sich keines Angesichts erinnern, das irgendeine Spur von Olivers Gesichtszügen verriet. So stieß er einen Seufzer aus über die Erinnerungen, die er wachgerufen hatte, und begrub sie, da er zu seinem Glück ein zerstreuter alter Herr war, wieder in den Seiten des verstaubten Buchs.

      Eine Berührung an der Schulter und die Aufforderung des Mannes mit den Schlüsseln, ihm in die Amtsstube zu folgen, brachte ihn zu sich. Hastig schloss er das Buch und wurde umgehend in die ehrfurchtgebietende Gegenwart des berühmten Mr. Fang geführt.

      Die Amtsstube war ein nach vorne gelegener Saal mit getäfelten Wänden. Mr. Fang saß am oberen Ende hinter einer Schranke, und an einer Seite neben der Tür befand sich eine Art hölzerner Verschlag, in den man den armen kleinen Oliver, der angesichts des furchterregenden Ortes am ganzen Leibe zitterte, inzwischen gesteckt hatte.

      Mr. Fang war ein hagerer, steifer, halsstarriger Mann mittlerer Größe, mit nur wenig Haaren, die allein an Hinterkopf und Schläfen wuchsen. Sein Gesicht war finster und stark gerötet. Sollte er wirklich nicht die Gewohnheit pflegen, mehr zu trinken als gut für ihn war, hätte er sein Gesicht wegen Verleumdung verklagen und eine erhebliche Summe Schadensersatz einstreichen können.

      Der alte Herr verbeugte sich respektvoll, trat an das Pult des Polizeirichters und sagte, wobei er den Worten die Tat folgen ließ: »Hier sind mein Name und meine Adresse, Sir.« Dann zog er sich ein oder zwei Schritte zurück und wartete mit einem weiteren höflichen und vornehmen Neigen des Kopfes darauf, befragt zu werden.

      Nun verhielt es sich so, dass Mr. Fang gerade den Leitartikel einer Morgenzeitung studierte, der sich mit einem kürzlich von ihm gefällten Urteil befasste und ihn zum dreihundertundfünfzigsten Mal der speziellen und besonderen Aufmerksamkeit des Justizministers empfahl. Er war gereizter Stimmung und blickte grimmig auf.

      »Wer seid Ihr?«, fragte Mr. Fang.

      Der alte Herr wies ein wenig erstaunt auf seine Karte.

      »Wachtmeister!«, rief Mr. Fang, der die Karte mit der Zeitung verächtlich beiseitefegte. »Wer ist dieser Bursche?«

      »Mein Name, Sir«, sagte der alte Herr und sprach im Tonfall eines echten Gentlemans, »mein Name, Sir, ist Brownlow. Es sei mir gestattet, mich nach dem Namen des Polizeirichters zu erkundigen, der eine ehrbare Person unter dem Schutz seines Amtes grundlos und ohne Not beleidigt.« Während er das sagte, schaute sich Mr. Brownlow in der Amtsstube um, als suche er jemanden, der ihm die gewünschte Auskunft geben würde.

      »Wachtmeister!«, rief Mr. Fang und stieß die Zeitung fort. »Was liegt gegen diesen Kerl vor?«

      »Gar nichts, Euer Ehren«, erwiderte der Wachtmeister. »Er ist Kläger gegen diesen Jungen, Euer Ehren.«

      Seine Ehren wusste das sehr wohl, doch war es eine gute Gelegenheit zum Schikanieren, und eine billige dazu.

      »Kläger gegen diesen Jungen, soso«, sagte Fang und musterte Mr. Brownlow verächtlich von Kopf bis Fuß. »Vereidigt ihn!«

      »Bevor ich vereidigt werde, möchte ich darum bitten, noch etwas sagen zu dürfen«, erklärte Mr. Brownlow, »und zwar, dass ich, ohne es selbst erlebt zu haben, niemals geglaubt hätte …«

      »Haltet den Mund, Sir!«, fuhr ihn Mr. Fang gebieterisch an.

      »Das werde ich nicht, Sir!«, entgegnete der alte Herr.

      »Haltet sofort den Mund, oder ich lasse Euch aus der Amtsstube entfernen!«, sagte Mr. Fang. »Ihr seid ein unverschämter und anmaßender Geselle. Wie könnt Ihr es wagen, einen Polizeirichter zu drangsalieren!«

      »Also wirklich!«, rief der alte Herr und lief rot an.

      »Vereidigt diese Person«, sagte Fang zu dem Schreiber. »Ich will kein Wort mehr hören. Vereidigt ihn.«

      Mr. Brownlows Empörung war riesengroß, aber da er wohl bedachte, dass es dem Jungen vielleicht nur schaden würde, wenn er sich Luft machte, hielt er seine Gefühle im Zaum und willigte ein, sich umgehend vereidigen zu lassen.

      »Also«, sagte Fang, »was liegt gegen diesen Jungen vor? Was habt Ihr dazu zu sagen, Sir?«

      »Ich hielt mich gerade an einer Bücherbude auf …«, begann Mr. Brownlow.

      »Haltet den Mund, Sir!«, unterbrach Mr. Fang. »Der Polizist! Wo ist der Polizist? Da, vereidigt diesen Polizisten. Gut, was ist vorgefallen?«

      Der Polizist berichtete mit gebührender Unterwürfigkeit, wie er die Verhaftung vorgenommen, Oliver durchsucht und nichts gefunden habe, und das sei alles, was er wisse.

      »Gibt es irgendwelche Zeugen?«, erkundigte sich Mr. Fang.

      »Nein, Euer Ehren«, antwortete der Polizist.

      Mr. Fang saß einige Minuten schweigend da, wandte sich dann an den Kläger und sagte aufbrausend:

      »Wollt Ihr nun Eure Klage gegen diesen Jungen vorbringen, Bursche, oder nicht? Ihr steht unter Eid. Wenn Ihr die Aussage verweigert, werde ich Euch wegen Missachtung des Gerichts verurteilen, das werde ich, beim …«

      Bei wem oder was sollte niemand erfahren, denn Schreiber und Wärter husteten just in diesem Moment sehr vernehmlich, und Erstgenannter ließ ein dickes Buch zu Boden fallen – rein