Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus. Charles Dickens. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charles Dickens
Издательство: Bookwire
Серия: Reclam Taschenbuch
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783159618814
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Füße wegen aber nicht. Als die Außenfahrgäste das sahen, steckten sie ihre Halfpence wieder in die Tasche und erklärten, er sei ein fauler junger Hund und würde keinen Lohn verdienen. Dann ratterte die Kutsche davon und ließ nur eine Staubwolke zurück.

      In manchen Dörfern waren große Schrifttafeln mit Hinweisen angebracht, die allen Personen, die in diesem Bezirk bettelten, mit dem Gefängnis drohten. Sie flößten Oliver große Furcht ein, und er war froh, dort so schnell wie möglich wieder wegzukommen. In anderen Dörfern stand er in den Höfen der Gasthäuser und schaute jeden, der vorbeiging, traurig an. Dieser Tätigkeit wurde zumeist von der Wirtin ein Ende gesetzt, indem sie die müßiggehenden Stallknechte der Poststation anwies, den fremden Jungen fortzujagen, denn sie war überzeugt, er sei nur hergekommen, um etwas zu stehlen. Bettelte er an einem Bauernhof, drohten sie ihm in neun von zehn Fällen, den Hund auf ihn zu hetzen, und ließ er sich in einem Laden blicken, riefen sie nach dem Büttel, was Oliver vor Furcht mit den Zähnen klappern ließ, die ohnehin über viele Stunden oft das einzige waren, was seinen Mund füllte.

      Und tatsächlich wären Olivers Leiden, hätte es nicht einen gutherzigen Schlagbaumwärter und eine wohlwollende alte Dame gegeben, auf dieselbe Art verkürzt worden, wie die seiner Mutter ein Ende gefunden hatten, mit anderen Worten, er wäre ziemlich sicher auf dem King’s Highway nach London tot umgefallen. Aber der Schlagbaumwärter reichte ihm ein aus Brot und Käse bestehendes Mahl, und die alte Dame, die einen Enkel besaß, der Schiffbruch erlitten hatte und barfuß einen weit entfernten Winkel der Erde durchstreifte, erbarmte sich des armen Waisenkindes und gab ihm, so viel sie zu geben vermochte – ja mehr sogar – und mit so gütigen und freundlichen Worten und Tränen voller Zuneigung und Mitgefühl, die tiefer in Olivers Seele sanken als aller Kummer, den er je erlitten hatte.

      In der Frühe des siebten Morgens, nachdem er seinen Geburtsort verlassen hatte, humpelte Oliver in das kleine Städtchen Barnet. Die Fensterläden waren geschlossen, die Straßen leer, und noch keine Menschenseele hatte sich an ihr Tagwerk gemacht. Die Sonne ging in ihrer ganzen Pracht auf, aber das Licht diente nur dazu, dem Jungen seine Einsamkeit und Verzweiflung vor Augen zu führen, als er sich staubbedeckt und mit wunden Füßen auf eine kalte Stufe vor einer Haustür niedersetzte.

      Nach und nach wurden die Fensterläden geöffnet, die Rollvorhänge hochgezogen, und die ersten Leute kamen und gingen. Manche blieben stehen, um Oliver einige Augenblicke anzustieren, oder drehten im Vorbeigehen den Kopf nach ihm um, aber niemand half ihm oder fühlte sich bemüßigt zu fragen, wie er hergekommen sei. Ihm fehlte der Mut zu betteln. Er hockte einfach da.

      So kauerte er eine Weile auf der Stufe und staunte über die große Zahl von Wirtshäusern (jedes zweite Haus in Barnet, ob groß oder klein, war eine Schenke), blickte teilnahmslos den durchfahrenden Kutschen nach und dachte, wie seltsam es sei, dass sie in wenigen Stunden mühelos das schafften, was ihn zu vollbringen eine ganze Woche voller Ausdauer und Entschlossenheit, die weit über sein Alter hinausgingen, gekostet hatte. Da bemerkte er, wie ein Junge, der wenige Minuten zuvor achtlos an ihm vorübergegangen war, kehrtmachte und ihn von der anderen Straßenseite aus eingehend musterte. Er schenkte dem erst wenig Beachtung, aber der Junge betrachtete ihn weiterhin so unverwandt und aufmerksam, dass Oliver den Kopf hob und den festen Blick erwiderte. Daraufhin kam der Junge herüber, ging auf Oliver zu und sagte:

      »Hallo, Kollege, was’n los?«

      Der Bursche, der sich derart bei dem jungen Wanderer erkundigte, war ungefähr in dessen Alter, aber von solch sonderbarem Äußeren, wie Oliver es nie zuvor gesehen hatte. Zwar zierten ihn, wie jeden anderen Jungen, Stupsnase, flache Stirn und ein gewöhnliches Gesicht, und er war auch so schmutzig, wie man es sich von einem Halbwüchsigen nur wünschen konnte, doch besaß er das Benehmen und Gebaren eines Mannes. Er war für sein Alter ein wenig kurz geraten, hatte krumme Beine, und seine kleinen Augen blickten boshaft und stechend. Der Hut saß ihm so locker auf dem Kopf, dass er jeden Augenblick herunterzufallen drohte, was auch des öfteren geschehen wäre, hätte sein Träger nicht den Dreh herausgehabt, von Zeit zu Zeit mit dem Kopf zu rucken, was den Hut wieder auf seinen angestammten Platz beförderte. Er trug den Gehrock eines Erwachsenen, der ihm fast bis zu den Fersen reichte. Die Ärmelaufschläge hatte er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, um die Hände freizubekommen, offenbar allein zu dem Zwecke, sie sogleich wieder in die Taschen seiner Kordhosen zu versenken, denn dort befanden sie sich. Alles in allem war er der großspurigste und protzigste junge Herr, der je seine vier Fuß sechs Zoll – oder etwas weniger – in Schaftstiefeln gestanden hatte.

      »Hallo, Kollege, was’n los?«, sagte der sonderbare junge Herr zu Oliver.

      »Ich bin sehr hungrig und müde«, erwiderte Oliver, mit Tränen in den Augen, als er sprach. »Ich habe einen weiten Weg hinter mir. Ich bin sieben Tage lang gegangen.«

      »Sieben Tage lang gelatscht!«, rief der junge Herr. »Ah, verstehe, auf Befehl der Bullen, was? Aber«, fügte er hinzu, als er Olivers erstaunten Blick bemerkte, »du weiß wohl gar nich, was’n Bulle is, mein kleiner Ganeff?«

      Oliver erwiderte schüchtern, er kenne den fraglichen Begriff nur als Bezeichnung für ein großes Tier mit Hörnern.

      »Herrlich, wie grün!«, rief der junge Herr. »Na, ein Bulle is’n Polizist, und wenn du auf Befehl der Bullen marschierst, dann nich geradaus, sondern immer nur aufwärts, und du komms nie wieder runter. Noch nie inner Mühle gewesen?«

      »Was für eine Mühle?«, erkundigte sich Oliver.

      »Was für ne Mühle! Na, die Tretmühle, die is so klein, die hat im kleinsten Kittchen Platz, und je schlechter der Wind für die Leute steht, desto besser für die Mühle, denn steht er günstig, findet se keine Müllerburschen. Aber los, du brauchs was zwischen die Zähne, und du solls es bekommen. Bei mir herrscht zwar Ebbe, hab bloß ’n Shilling und’n Halfpenny, aber die werd ich schon lockermachen, um damit zu blechen. Dann schwing dich mal auf deine Stelzen. Na los, lass uns gehen!«

      Nachdem er Oliver geholfen hatte, aufzustehen, nahm ihn der junge Herr in einen nahe gelegenen Kramladen mit, wo er reichlich aufgeschnittenen Schinken und ein halbes Vierpfundbrot, oder, wie er es nannte, »für vier Pence Kleie« erwarb. Der Schinken wurde durch den findigen Kunstgriff, ein Loch in den Laib zu bohren, daraus ein paar Brocken hervorzuklauben und stattdessen den Schinken hineinzustopfen, vor Staub geschützt und sauber gehalten. Das Brot unter den Arm geklemmt kehrte der junge Herr in ein kleines Wirtshaus ein und schritt geradewegs zu einer Schankstube auf der rückwärtigen Seite der Lokalität. Hier wurde auf Geheiß des geheimnisvollen jungen Mannes ein Krug Bier gebracht, und Oliver machte sich nach Aufforderung seines neuen Freundes an ein ausgiebiges und herzhaftes Mahl, in dessen Verlauf ihn der fremde Junge von Zeit zu Zeit aufmerksam beäugte.

      »Willste nach London?«, fragte der fremde Junge, als Oliver schließlich fertig war.

      »Ja.«

      »Schon’n Quartier?«

      »Nein.«

      »Geld?«

      »Nein.«

      Der fremde Junge pfiff und steckte seine Hände so tief in die Taschen, wie es die weiten Ärmel zuließen.

      »Wohnst du in London?«, erkundigte sich Oliver.

      »Ja, wenn ich zu Hause bin«, entgegnete der Junge. »Wahrscheinlich suchste für heute nacht noch’n Schlafplatz, was?«

      »Ja, das stimmt«, antwortete Oliver. »Seit ich unterwegs bin, habe ich keine Nacht ein Dach über dem Kopf gehabt.«

      »Lass dir deshalb mal keine grauen Haare wachsen«, sagte der junge Herr, »ich muss heut nacht noch nach London, und ich kenn ’n ehrbarn alten Herrn, der dort wohnt und dir gratis Quartier verschafft und nix dafür verlangt, jedenfalls nich, wenn irgend’n Gentleman, den er kennt, dich vorstellt. Und kennt er mich etwa? Oh nein! Nich im geringsten! Kein bisschen. Überhaupt nich!«

      Der junge Herr grinste, als wolle er andeuten, dass die letzten Gesprächsbrocken scherzhaft und ironisch gemeint waren, und während er das tat, leerte er den Bierkrug.

      Dieses unerwartete Angebot eines Obdachs war zu verlockend, um ihm widerstehen zu können,