Lange Zeit verharrte Oliver reglos in dieser Haltung. Als er sich wieder erhob, war die Kerze auf dem Ständer schon weit herabgebrannt. Nachdem er sich vorsichtig umgeschaut und angespannt gelauscht hatte, schob er sachte die Riegel an der Tür zurück und blickte hinaus.
Es war eine kalte und dunkle Nacht. Die Sterne schienen den Augen des Jungen weiter von der Erde entfernt, als er es je zuvor gesehen hatte, es regte sich kein Lüftchen und die düsteren Schatten, die die Bäume auf den Boden warfen, gemahnten in ihrer Reglosigkeit an Grab und Tod. Leise schloss er die Tür wieder und setzte sich, nachdem er das schwindende Licht der Kerze dazu genutzt hatte, die wenigen Kleidungsstücke, die er besaß, in ein Bündel zu schnüren, auf eine Werkbank, um auf den Morgen zu warten.
Beim ersten Lichtstrahl, der sich durch die Spalten der Läden zwängte, stand Oliver auf und entriegelte erneut die Tür. Ein ängstlicher Blick in die Runde, ein Moment des Zögerns, dann hatte er sie hinter sich geschlossen und befand sich draußen auf der Straße.
Er schaute nach rechts und nach links, unschlüssig, wohin er fliehen sollte. Ihm fiel ein, dass er gesehen hatte, wie die Fuhrwerke sich auf ihrem Weg aus dem Ort hinaus den Hügel hinaufmühten. Also schlug er dieselbe Richtung ein, und als er auf einen schmalen Pfad stieß, der über die Felder führte und, wie er wusste, nach einer Weile wieder auf die Straße mündete, bog er dort ein und lief schnell weiter.
Diesen Pfad, dessen entsann sich Oliver noch gut, war er neben Mr. Bumble hergetrabt, als der ihn damals vom Heim ins Armenhaus gebracht hatte. Sein Weg führte ihn jetzt direkt an diesem Heim vorbei. Bei dem Gedanken daran klopfte sein Herz, und er wollte beinahe schon wieder umkehren. Doch hatte er bereits eine längere Strecke zurückgelegt und würde dadurch viel Zeit verlieren. Außerdem war es noch so früh am Tag, dass für ihn kaum Gefahr bestand, gesehen zu werden, also ging er weiter.
Er erreichte das Heim. Nichts deutete darauf hin, dass seine Bewohner zu so früher Stunde schon auf den Beinen waren. Oliver hielt an und spähte in den Garten. Ein Junge rupfte in einem der kleinen Beete Unkraut. Als Oliver stehen blieb, hob er sein blasses Gesicht, und Oliver erkannte die Züge eines früheren Gefährten. Er war froh, ihn zu sehen, ehe er fortging, denn obwohl jünger als er selbst, war er sein Freund und Spielkamerad gewesen. Viele, viele Male hatten sie gemeinsam Schläge, Arrest und Hunger ertragen.
»Leise, Dick!«, mahnte Oliver, als der Junge ans Tor gerannt kam und seine dünnen Arme durch die Gitterstäbe steckte, um ihn zu begrüßen. »Ist schon wer auf?«
»Niemand außer mir«, antwortete der Knabe.
»Du darfst keinem sagen, dass du mich gesehen hast, Dick«, sagte Oliver. »Ich laufe fort. Sie schlagen und quälen mich, Dick, ich werde mein Glück irgendwo weit weg suchen. Ich weiß nicht, wo. Wie blass du bist!«
»Ich habe gehört, wie der Doktor ihnen gesagt hat, dass ich bald sterben werde«, erwiderte der Junge mit schwachem Lächeln. »Wie schön, dich zu sehen, mein Freund, aber du darfst nicht länger bleiben!«
»Nur, um von dir Abschied zu nehmen«, sagte Oliver, »doch werden wir uns wiedersehen, Dick, ich weiß es. Und du wirst gesund und glücklich sein!«
»Hoffentlich! Aber wohl erst, wenn ich tot bin, vorher nicht. Ich weiß, dass der Doktor recht hat, Oliver, denn ich träume so viel vom Himmel und von Engeln und von lieben Gesichtern, die ich nie sehe, wenn ich wach bin. Gib mir einen Abschiedskuss«, sagte der Kleine, kletterte am niedrigen Tor empor und schlang seine Ärmchen um Olivers Hals. »Auf Wiedersehen, mein Freund! Gott segne dich!«
Der Segen kam von den Lippen eines kleinen Kindes, doch es war der erste, den Oliver je empfangen hatte, und bei allem Kummer und Leid, allen Nöten und Wechselfällen seines künftigen Lebens hat er ihn nie vergessen.
Achtes Kapitel
Oliver geht nach London. Unterwegs begegnet er einem sonderbaren jungen Herrn.
Oliver erreichte den Zauntritt, an dem der Feldweg endete und wieder auf die Landstraße stieß. Es war jetzt acht Uhr. Obwohl er sich fast fünf Meilen vom Ort entfernt hatte, bewegte er sich, aus Furcht, verfolgt und eingeholt zu werden, bis zum Mittag abwechselnd rennend und sich hinter Hecken versteckend fort. Dann machte er bei einem Meilenstein Rast und dachte zum ersten Mal darüber nach, wohin er am besten gehen und ein neues Leben anfangen sollte.
Der Stein, neben dem er sich niedergesetzt hatte, trug in großen Buchstaben den Hinweis, dass es von dieser Stelle nur siebzig Meilen bis nach London seien. Dieser Name brachte den Jungen auf neue Gedanken. London! Diese ungeheuer große Stadt! Niemand, nicht einmal Mr. Bumble, würde ihn dort jemals finden können! Auch hatte er die alten Männer im Armenhaus oft sagen hören, dass kein aufgeweckter Bursche in London Not leiden müsse und dass es in dieser riesigen Stadt Mittel und Wege gebe, sein Leben zu bestreiten, von denen jene, die auf dem Lande aufgewachsen sind, keine Vorstellung besäßen. Das war der richtige Ort für einen heimatlosen Jungen, der auf der Straße sterben musste, wenn ihm keiner half. Als ihm diese Dinge durch den Kopf gingen, sprang er auf und setzte seinen Weg fort.
Er hatte die Entfernung zwischen sich und London um weitere vier volle Meilen verringert, bevor ihm in den Sinn kam, wie viel er noch durchstehen müsse, ehe er hoffen durfte, den Ort seiner Bestimmung zu erreichen. Als sich ihm diese Gedanken aufdrängten, verlangsamte er seinen Schritt ein wenig und sann nach, welche Mittel er habe, um dorthin zu gelangen. In seinem Bündel befanden sich ein Stück trockenes Brot, ein derbes Hemd und zwei Paar Strümpfe. Zudem hatte er noch einen Penny in seiner Tasche stecken – ein Geschenk Sowerberrys nach einer Beerdigung, bei der er seine Sache noch besser als sonst gemacht hatte. »Ein sauberes Hemd«, dachte Oliver, »ist eine feine Sache, sehr sogar, ebenso die zwei Paar gestopften Strümpfe und der Penny, doch für einen Weg von fünfundsechzig Meilen im Winter sind sie von geringem Nutzen.« Aber obwohl Olivers Gedanken, wie die der meisten anderen Leute, eifrig bestrebt und bemüht waren, ihm seine Schwierigkeiten vor Augen zu führen, versagten sie doch vollkommen dabei, ihm irgendeinen gangbaren Weg aufzuzeigen, wie er sie überwinden könne. Als er sich eine Weile vergeblich den Kopf zerbrochen hatte, schulterte er sein kleines Bündel und stapfte weiter.
An diesem Tag wanderte Oliver zwanzig Meilen, und die ganze Zeit zehrte er von nichts anderem als von dem Stück trockenen Brotes und einigen Schluck Wasser, die er an den Türen der Bauernhöfe entlang der Straße erbettelte. Als die Nacht hereinbrach, bog er auf eine Wiese, kroch unter einen Heuschober und beschloss, dort bis zum Morgen liegenzubleiben. Zuerst fürchtete er sich, denn der Wind heulte schaurig über die kahlen Felder. Er fror, war hungrig und fühlte sich einsamer als je zuvor. Da ihn sein Marsch jedoch sehr erschöpft hatte, fiel er bald in tiefen Schlaf und vergaß all seine Sorgen.
Als er am nächsten Morgen aufstand, war er kalt und steif und so hungrig, dass er sich genötigt sah, den Penny im ersten Dorf, in das er kam, gegen einen kleinen Laib Brot einzutauschen. Er hatte nicht mehr als zwölf Meilen zurückgelegt, als erneut die Nacht hereinbrach, denn seine Füße waren wund und seine Beine so schwach, dass sie unter ihm wegsackten. Eine weitere Nacht verstrich an der nasskalten Luft, was seinen Zustand zusehends verschlimmerte, und als er am nächsten Morgen seine Reise fortsetzen wollte, konnte er kaum noch vorwärtskriechen.
Oliver wartete am Fuß eines steilen Hügels, bis eine Postkutsche kam, und bettelte die Fahrgäste auf den Außensitzen an, doch nur wenige von ihnen schenkten ihm überhaupt Beachtung, und selbst diese bedeuteten ihm, er solle warten, bis sie auf der Hügelkuppe angekommen