Die Blockchain und ihre vielfältigen Facetten sind mit Kollaboration und Vollautomation noch lange nicht zu Ende erzählt. Die Blockchain ist noch so viel mehr. Nehmen wir die Kreislaufwirtschaft. Diese wird von der Öffentlichkeit vehement eingefordert. Zu Recht, denn wir müssen mit den Ressourcen schonend umgehen. Für die Chemieindustrie bedeutet der Einsatz der Blockchain in der Kreislaufwirtschaft eine große Chance, denn zum ersten Mal ist es möglich, glaubhaft belegen zu können, dass die Kunststoffe sich tatsächlich im Kreise drehen, sie mehrfach genutzt werden und nicht die Umwelt belasten. Die Kreislaufwirtschaft wird in der Chemie gerade aufgebaut. In wenigen Jahren wird sie weltweit genutzt. Damit kann das Thema Kunststoffe in der Öffentlichkeit ganz neu positioniert werden. Plastik, wie Kunststoffe auch genannt werden, hat bekanntlich einen schlechten Ruf. Zu Unrecht, denn wenn die Kunststoffe im Kreislauf gehalten werden, schaden sie dieser nicht. Im Gegenteil. Sie tragen massiv zur Umweltschonung bei. Es wird Zeit, dass dies öffentlich kommuniziert wird und nicht denen das Feld überlassen wird, denen Fakten egal sind, wenn sie nicht ins eigene Weltbild passen. Dass es sich bei der Kunststoff‐Kreislaufwirtschaft nicht um ›Greenwashing‘ handelt, belegt die Blockchain. Zahlen lügen nicht. Sie liefern den Beweis. Ohne die Blockchain stünde die Chemieindustrie vermutlich in der Öffentlichkeit schnell wieder unter Verdacht, bloßes Greenwashing zu betreiben. Dank Blockchain kann dieser Verdacht entkräftet werden. Ein Imagewechsel ist möglich. Diese Chance sollte die Chemie ergreifen.
Dabei ist die Kreislaufwirtschaft nur ein Beispiel, wie die Blockchain hilft, Innovationen voranzutreiben. Sie wird die Zeit bei der Entwicklung von Patenten verkürzen, die Idee eines digitalen Euros massiv vorantreiben, neue Finanzierungsinstrumente gebären, Geldwäsche und Korruption verhindern helfen, mit dem Endkunden einen direkten Austausch ermöglichen. Blockchain ist das und noch viel mehr. Die Lektüre skizziert, wie aus dem Dreiklang von Blockchain, Kreislaufwirtschaft und New Work die Chemie 4.0 gelingen kann, der Sprung der Chemieindustrie in ein neues Zeitalter. Eins, in dem die Chemie nicht mehr als Gegensatz zu Umwelt wahrgenommen werden wird, sondern in Einklang mit dieser. Denn die Chemieindustrie ist mit ihrem Wissen von Natur und Technik dazu in der Lage, bei den dringendsten Problemen unserer Zeit entscheidend zur Lösung beizutragen. Beim Klimawandel genauso wie bei der Ressourcenschonung oder bei der Ernährung der Weltbevölkerung. Ohne Chemie wird das nicht gelingen. Doch dafür brauchen wir Partner in der Industrie, die mitziehen, um gemeinsam diese neuen Wege zu gehen. Nicht Zögern und Taktieren ist gefragt, sondern Mitmachen, an einem Strang ziehen, um die großen Herausforderungen, die vor uns liegen, zu schaffen. Ich bin überzeugt: Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Dabei hilft, dass die Chemie mit der gesamten produzierenden Industrie auf der Welt verbunden ist und so nicht nur zum wichtigsten Treiber der Blockchain‐Technologie werden kann, sondern auch bei der Kreislaufwirtschaft.
Herausfordernd ist die Blockchain noch in anderer Hinsicht, denn in dem Wettrennen der Systeme, das in den letzten Jahren wesentlich zwischen den USA und China ausgetragen wurde, bietet die Blockchain für Europa die Möglichkeit, sich als Global Player erneut ins Spiel zu bringen und zugleich die eigenen Industriedaten und die Daten seiner Bürger vor dem Datenabgriff durch amerikanische und chinesische Unternehmen, aber auch vor Wirtschaftsspionage fremder Staaten zu schützen. Denn die Blockchain, deren innovative Anwendungen momentan im Wesentlichen in Deutschland entwickelt werden, wird eine weltweite Nachfrage nach diesen Assets erzeugen. Die Blockchain bietet zudem erheblich mehr Sicherheit. Angesichts der rasanten, aber auch bedrohlichen Entwicklungen im Internet ist das ein wichtiges Thema. Die Europäische Kommission will dieser bahnbrechenden Technologie mit der Europäischen Blockchain Infrastruktur (EBSI) den Weg ebnen. Dabei sind der Schutz unserer europäischen Daten, die Entwicklung neuer digitaler Standards, die definieren, wie in Zukunft im weltweiten Handel miteinander agiert wird, sowie die Möglichkeit, durch die Blockchain demokratische Werte zu stärken, Themen, die zeigen, dass die Blockhain politische Implikationen hat, die ähnlich disruptiv sind wie die in der Wirtschaft. Dazu sei Ihnen das wegweisende Interview mit Pēteris Zilgalvis von der EU‐Kommission in Kapitel 6 empfohlen.
Die Änderungen, die mit der Blockchain einhergehen, sind derart grundlegend, dass ein Vergleich mit der Erfindung des Buchdrucks nicht übertrieben ist. Wir befinden uns am Vorabend einer neuen Ordnung und es ist ein Privileg, diesen spannenden Wandel gestalten zu dürfen. Wir in der Chemieindustrie werden das tun. Im Einvernehmen mit den Partnern in Europa und anderswo.
Ute Wolf, Finanzvorstand Evonik
1 Vom Vertrauen zum Wissen durch Blockchain
Vertrauen ist eine riskante Erfindung der Moderne. Das behauptet die Berliner Forscherin Ute Frevert, die sich in einem großen Forschungsprojekt des Max‐Planck‐Institutes für Bildungsforschung seit vielen Jahren als Historikerin mit dem Thema Gefühle westlicher Gesellschaften und deren Veränderung auseinandersetzt.1 Die renommierte Wissenschaftlerin spricht sogar von einer regelrechten Obsession für das Vertrauen.2 Diese Aussage überrascht. Ist es nicht vielmehr so, dass die Menschen schon immer einander vertraut haben? Warum sollte das Ausdruck einer Besessenheit sein? Ohne Vertrauen kann eine Gesellschaft schließlich nicht funktionieren. Wir gehen morgens aus dem Haus und vertrauen darauf, dass unser Auto in der Werkstatt repariert wurde und wir mit ihm sicher fahren können. Wir vertrauen darauf, dass das Essen in der Kantine nicht vergiftet ist, dass die Polizei kommt und uns hilft, wenn wir sie brauchen. Wir vertrauen den Ärzten, wenn wir ihren Rat suchen, und vertrauen unsere Kinder der Kindergärtnerin an. Wird dieses Vertrauen erschüttert, funktioniert unsere Gesellschaft nicht mehr. Zumindest moderne Gesellschaften sind bei Vertrauensverlust in ihrem Kern getroffen. Denn moderne Gesellschaften sind hochkomplexe Gebilde, deren Komplexität geradezu zu Vertrauen zwingt. Das jedenfalls sagte einer der größten Soziologen der Moderne, Niklas Luhmann.3 Selbst bestens ausgebildete Spezialisten, hochgebildete Akademiker müssen blind vertrauen, und zwar jeden Tag. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig. Denn die vielen Teilsysteme einer Gesellschaft sind viel zu komplex, um sie für Laien – und das sind wir alle auf vielen Gebieten – transparent, verständlich und kontrollierbar zu machen. Die Antwort auf diese Ohnmacht des modernen Menschen lautet: Vertrauen haben. Diese immer überfordernde Komplexität moderner Gesellschaften wird durch Vertrauen in das Funktionieren der verschiedenen Teilsysteme wirkungsvoll reduziert und damit für Menschen wieder handhabbar. Würden wir alles misstrauisch beäugen, was uns umgibt, und alles kontrollieren müssen, wäre unsere Gesellschaft lahmgelegt. Wir können nicht den Kfz‐Mechaniker kontrollieren, ob er alles richtigmacht. Dafür fehlen uns Zeit und Kompetenz. Genauso wenig können wir dem Koch im Restaurant ständig auf die Finger schauen oder die Kindergärtnerin stundenlang mit gerunzelten Augenbrauen beobachten, ob sie unseren Filius optimal fördert. Wir sind also auf Vertrauen angewiesen.
Fehlt Vertrauen, droht der Kollaps
Stammesgesellschaften haben dieses Problem nicht. Da kennt jeder jeden und alle sind in die Kontrolle der Gruppe eingebunden. Vertrauen ist hier nicht notwendig. Vielmehr war das Misstrauen der Regelfall, zumindest gegenüber Fremden. Das jedenfalls hat Ute Frevert erforscht.4 Das Wort ›Vertrauen‘ taucht in historischen Quellen nur im Zusammenhang mit Gott auf. Nur Gott allein schenkte man Vertrauen, vor allem in Krisen wie Hungerzeiten oder Epidemien.5 Erst mit dem Beginn der Moderne im 17. und 18. Jahrhundert wird Vertrauen zum zentralen Thema. Das ist kein Zufall, denn diese Gesellschaft