Auch Gilmours Freund Rado Klose ackerte sich fleißig durch Seegers Lehrbuch. Später sollte er unter seinem zweiten Vornamen, Bob, Mitglied bei den frühen Pink Floyd werden. „David und ich kannten uns praktisch von Geburt an“, sagt Klose. „Unsere Väter hatten sich kennengelernt, noch bevor sie überhaupt Familien gründeten. Ich weiß nicht mehr, ob David sich von mir etwas beibringen ließ, aber ich erinnere mich daran, wie wir beide die Platte von Pete Seeger und Radio Luxemburg hörten. Da waren Songs, die uns gefielen, und wir fragten uns, wie man sie spielte. Dann machten wir uns daran, es herauszufinden. Bei ‚Walk Don’t Run‘ von den Ventures war das etwa der Fall. David wusste sofort, wie der ging, während wir anderen länger dafür brauchten.“ Klose war ebenso Schüler an der County: „In diesem Alter ist die Schule der absolute Lebensmittelpunkt. Syd war eine Klasse unter mir und Roger eine über mir. Wir hatten alle einen ähnlichen Musikgeschmack. Eine Zeitlang fuhr ich voll auf Jazz ab – aber nur auf den Jazz aus der Zeit vor 1935! Dann Django Reinhardt. Roger stand auf Jimmy Dufree. Den Blues für mich zu entdecken, war wie ein Moment der Offenbarung. Ich erinnere mich daran, wie ich nach der Schule in den Plattenladen ging und eine LP von Leadbelly sah. Ich hatte keine Ahnung, wer er war, mir gefiel nur der Name. Der Verkäufer ließ mich in das Album reinhören. Es war wie die Essenz von allem, was ich an Musik mochte – nur in konzentrierter Form.“ Leadbelly wurde zu einem gemeinsamen Favoriten des Trios Klose, Gilmour und Waters.
Seitdem Roger zwölf war, hatte er regelmäßig Jazz-Konzerte im lokalen Corn Exchange besucht, doch anders als etwa Syds Mutter, hatte Mary Waters nicht viel für Musik übrig. „Sie behauptete, kein musikalisches Gehör zu haben“, erinnert sich ihr Sohn. „Sie machte sich nicht viel aus Kunst. Sie war ein sehr politischer Mensch. Politik stand bei ihr an erster Stelle. Auf jeden Fall wurde ich weder zuhause noch in der Schule ermutigt, mich mit Musik zu befassen.“
1961, dem Jahr, in dem Syd Barrett seinen Vater verlor, kam auch Gilmours Familienleben in eine beträchtliche Schieflage. Seinem Vater Doug Gilmour wurde im Rahmen des sogenannten „Brain Drain“, bei dem britische Akademiker mit hochdotierten Lehrposten ins Ausland gelockt wurden, eine Stelle an der New York University angeboten, wo er schließlich zum Professor für Genetik wurde. Er und Sylvia entschieden sich, für ein Jahr nach New York zu gehen. David Gilmours zehn Jahre alter Bruder Mark begleitete sie, während die anderen Geschwister in England blieben. Davids Schwester Catherine besuchte bereits die Universität. Dem 15-jährigen David wurde angeboten, seinen Eltern und seinem Bruder in die USA zu folgen, doch entschied er aufgrund der musikalischen Möglichkeiten, die er ihn Cambridge vorfand, in seiner angestammten Umgebung zu bleiben. Während dieser Zeit kam er bei einer Familie in Chesterton unter. Unbeaufsichtigt schlich sich Gilmour zu Konzerten, anstatt für seine O-Level-Prüfungen zu lernen.
Waters, Barrett und Gilmour hatten nun zwei Dinge gemeinsam: ihren schulischen Hintergrund sowie die Abwesenheit ihrer Väter. Auf sich selbst gestellt, schickten sie sich an, ihrer Zukunft als Pink Floyd entgegenzustreben.
Auch wenn Gilmour der erste der drei war, der sich für Rock’n’Roll begeisterte, so waren seine zukünftigen Partner auch ohne Elvis nicht untätig darin, gegen das restriktive Klima an der Schule aufzubegehren. Wenn etwa Waters’ akribisches Vorgehen gegen den Obstgarten seiner Schule mehr wie ein kunstvoller Streich als ein einfacher Vandalenakt erscheint, so darf einen dies nicht weiter wundern.
Als Universitätsstadt bot Cambridge auch einen fruchtbaren Boden für die neue Garde nonkonformistischer amerikanischer Autoren und Dichter der Beat Generation. Die betreffenden Schreiber – Allen Ginsberg, Jack Kerouac und William Burroughs – wehrten sich stets gegen diese Bezeichnung und protestierten: „Drei Freunde ergeben noch lange keine Generation.“ Trotzdem gab es zwischen ihnen ausreichend Gemeinsamkeiten in Bezug auf ihre Sichtweisen, um den Begriff zu rechtfertigen. Ginsbergs Geheul und andere Gedichte von 1956 sowie Burroughs’ 1959 erschienenem Roman Naked Lunch wurde große Aufmerksamkeit zuteil, nachdem sie in das Visier der Sittenwächter geraten waren. Und doch war es Kerouacs Roman Unterwegs – 1957 nach einem Gerichtsverfahren, in dessen Fokus Geheul gestanden hat, veröffentlicht –, der der Beat Generation zu größerer Bekanntheit verhalf. Die Geschichte eines poetischen Wandervogels, der mittels Güterzügen und anderer Mitfahrgelegenheiten durch die USA reist, Pillen einwirft und zu einem Soundtrack von Bebop-Jazz dem Gelegenheitssex frönt, wurde zur Pflichtlektüre für smarte Teenager, die in einer Universitätsstadt heranwuchsen.
Die ungezügelte Kreativität der Beats, ihre nonkonformistische Haltung und ihre Abenteuerlust sprachen sowohl Barrett als auch Waters an. In Briefen an seine Freundin Libby Gausden schwärmte Barrett von Unterwegs. Er experimentierte mit seinem Outfit und entschied sich schließlich für schwarze Hosen und einen Fischer-Pullover, wie er bei Kunststudenten und Jazz-Fans angesagt war. Einige Zeit nach dem Tod seines Vaters begann er, sich gelegentlich „Syd, der Beat“ zu nennen. „Syd“ leitete sich von Sid Barrett ab, einem nicht mit ihm verwandten Jazz-Drummer, dem er im örtlichen CVJM sowie im Anchor-Pub begegnet war.
„Damals“, so erinnerte sich Waters Jahre später, „gab es diese Vorstellung, ostwärts zu reisen, um Abenteuer zu erleben.“ Andrew „Willa“ Rawlinson begleitete Waters und noch andere auf ihren zahlreichen Trips durch Europa. „Wir fuhren mit dem Auto von Rogers Mum über Frankreich, Italien und Griechenland nach Istanbul“, erinnert er sich. „Wir waren circa drei Monate unterwegs.“ Mit 19 fuhren Waters, Rawlinson und noch weitere in den Nahen Osten. „Wir fuhren in einem alten Rettungswagen, den wir Brutus getauft hatten“, berichtet Rawlinson. „Wir wussten nichts über Motoren, füllten keine Kühlerflüssigkeit nach, und schließlich verreckte unser Wagen in Beirut. Also trennten sich dort unsere Wege. Roger trampte alleine zurück nach England.“ Es war dieser Trip, der seinen Solo-Song von 2003, „Leaving Beirut“, inspirieren sollte. Die erste Textzeile lautete: „So we left Beirut, Willa and I …“
Spätestens ab 1962 hatte sich Syd Barretts Skepsis gegenüber Rock’n’Roll verflüchtigt. Seine musikalischen Vorlieben umfassten mittlerweile amerikanische Interpreten wie Chuck Berry und Bo Diddley, aber auch heimische Acts wie die Instrumental-Band The Shadows, die in den frühen Sechzigerjahren zu den maßgeblichen Einflüssen jedes ambitionierten Gitarristen zählten. Die Veröffentlichung der ersten Beatles-Single „Love Me Do“ im Jahr 1962 sowie das Erscheinen ihres Debüt-Albums Please Please Me im Jahr darauf verliehen der Musikszene von Cambridge einen weiteren Schub. Die Beatles waren Engländer, boten daher mehr Identifikationspotenzial und sogar der sonst stets skeptische Roger Waters meinte: „Die Songs auf ihrem ersten Album waren einfach so gut.“ Barrett wurde zu einem inbrünstigen Beatles-Jünger und fing nach dem Erwerb seiner ersten E-Gitarre sowie des Heiligen Grals unter den diesbezüglichen Lernmaterialien – Pete Seegers Platte und Buch – an, sich Gedanken über eine eigene Gruppe zu machen. Zwar hatte Syd schon gemeinsam mit John Gordon Gitarren-Sessions abgehalten, doch sein erster ernsthafter musikalischer Gehversuch war eine Gruppe mit dem Namen Geoff Mott and the Mottoes, die sich um den geselligen Geoff Mottlow formiert hatte. Geoff besuchte