„Ich ging stets davon aus, dass The Wall von den Schulmeistern an der County handelte“, sagt Nick Barraclough. „Der Direktor war ein Mann namens Eagling, der bis heute der angsteinflößendste Mann ist, den ich jemals kennengelernt habe. Die beiden Rogers – Waters und Barrett – dürften das ebenso erlebt haben.“
Obwohl das Schulsystem immer noch in der Zwischenkriegszeit festzustecken schien und sich kaum an den Bedürfnissen von Jugendlichen orientierte, denen der Friede und relative Wohlstand, der ihren Eltern verwehrt geblieben war, zuteilwurde, waren die Fünfzigerjahre wie keine Ära zuvor voller neuer Möglichkeiten für Teenager. Waters brachte später seine Verachtung gegenüber dem Schulsystem auf den Punkt, indem er eine Episode aus seiner Schulzeit beschrieb. Nachdem er beschlossen hatte, sich für eine tatsächliche oder auch nur eingebildete Kränkung am Gärtner der Schule zu rächen, kletterten er und seine Mitverschwörer mittels einer Stufenleiter in den Obstgarten und wandten sich dem Lieblingsbaum des Gärtners zu. Daraufhin aßen sie jeden einzelnen Apfel – ohne sie von den Ästen zu pflücken. Als er diese Anekdote 30 Jahre später gegenüber der Zeitschrift Musician zum Besten gab, erklärte Waters, wie stolz er auf seinen ausgeklügelten Streich gewesen war.
Syd Barretts Weg durch die County, an die er drei Jahre nach Waters wechselte, war gekennzeichnet von seiner großen Leidenschaft für Kunst und sein Interesse an Poesie und Schauspiel. Auch er lehnte sich gegen Autoritäten auf, war aber in der Lage, sich mithilfe seines Charmes, seiner Intelligenz und seines guten Aussehens aus Schwierigkeiten herauszumanövrieren. Wie sich Gilmour erinnert, war er „ein heller Kopf und auf vielen Gebieten sehr bewandert“. Jedoch verfolgte er einen konventionelleren Weg und stieg innerhalb seiner lokalen Pfadfindertruppe bis zum Anführer auf.
Im Juni 1961 begann der 15-jährige Syd eine Beziehung mit Elizabeth Gausden, die von allen Libby gerufen wurde. Sie war Schülerin an der nahegelegenen Cambridge Grammar School for Girls. „Syd hatte bereits eine Freundin – eine sehr hübsches, liebes Mädchen namens Verena Frances“, erinnert sich Libby. „Aber bei uns stimmte die Chemie einfach. Er hat immer gesagt: ‚Du bist zwar nicht das hübscheste, aber dafür das lustigste Mädchen aller Zeiten.‘ Er war ein wunderbarer Junge. Jeder liebte ihn.“
John Gordon traf zum ersten Mal im Kunstunterricht der County auf Syd. „Er brillierte vom ersten Tag an“, erinnert er sich. „Seine Haare waren länger als die der anderen Schüler. Er teilte den Lehrern offen mit, was er sich dachte, und verließ sogar das Klassenzimmer, wenn er zurechtgewiesen wurde.“ Syd weigerte sich regelmäßig, den Blazer seiner Schuluniform zu tragen. Außerdem war es bemerkenswert, dass er seine Schuhe ohne Schnürsenkel trug – eine Angewohnheit, die er auch als Erwachsener beibehalten sollte. Ermutigt von seinen Eltern, kultivierte Syd seine kreative Ader, die sich erstmals an der Grundschule bemerkbar machte, indem er öffentlich Gedichte vorlas und vor Publikum sprach. Doch es sollte ein Schatten auf seine Jugendjahre fallen. Am 11. Dezember 1961 verstarb Dr. Barrett. „Sein Vater war schon lange krank gewesen“, sagt Libby Gausden. „Er litt an Krebs und hatte starke Schmerzen. Ich glaube, dass es fast eine Erlösung für die Kinder war, da er vor seinem Tod so schwer hatte leiden müssen. Syd schrieb wunderbare Tagebucheinträge. Jeder war fast einen halben Meter lang – doch am Todestag seines Vaters schrieb er bloß: ‚Mein armer Dad ist heute gestorben.‘“
Viele Leute stellten bezüglich der Auswirkungen, die der Verlust des Vaters auf Syd hatte, Mutmaßungen an. David Gilmour, der während dieser Jahre viel Zeit mit seinem Freund verbracht hatte, sagt dazu: „Syd sprach nie darüber. Die Leute meinen, dass der Tod seines Vaters ihn verändert hätte, doch damals konnte man nicht wirklich irgendwelche Veränderungen feststellen.“
„Ich kannte weder Syds Vater noch seine Brüder und wusste nicht, welche Aufgaben die Männer in seiner Familie erfüllten“, erinnert sich John Gordon. „Syd wirkte stets weltlicher als ich. Er genoss mehr Freiheiten und war erfahrener. Als sein Vater starb, übernahm er bereitwillig viel mehr Verantwortung als zuvor.“
Nachdem seine älteren Geschwister ausgezogen waren, bewohnte Syd einen großen Raum an der Vorderseite des Hauses, während seine Mutter die anderen Schlafzimmer an Untermieter – in der Regel Studenten – vermietete. Unter ihnen waren auch ein Vertreter des niederen britischen Adels sowie ein zukünftiger japanischer Ministerpräsident.
Falls Waters und bis zu einem gewissen Grad auch Barrett eine obrigkeitskritische Neigung gehabt hätten, wäre ihnen nun auch noch ein amtliches Motiv geliefert worden. Mit dem Erscheinen der Hit-Single „Rock Around the Clock“ von Bill Haley and the Comets im Jahr 1955 verkündeten die Medien die offizielle Erfindung des Teenagers sowie ihres Soundtracks – Rock’n’Roll. Zwei Jahre später verlieh Elvis Presley dieser neuen Musik mit seinem ikonischen Antlitz ein Gesicht und wurde das Vorbild einer ganzen Generation. Syds Bruder Alan spielte Saxofon in einer Skiffle-Gruppe und Syd selbst versuchte sich an einer Ukulele, bevor er seine Mutter davon überzeugen konnte, ihm eine Akustikgitarre der Marke Hofner zu spendieren.
„Nach der Schule trafen Syd und ich uns auf dem Flur, um dann zu ihm zu gehen, schließlich wohnte er praktisch gegenüber von der Schule“, erinnert sich John Gordon. „Mein Vater war Musiker, aber zumindest ein Teil von mir wollte nicht so sein wie er, weshalb ich mich gegen das Klavier sperrte und stattdessen mit Syd lernte, Gitarre zu spielen. Er hatte auch ein paar amerikanische Import-Platten. Außerdem hatte ich einen Onkel, der ein paar 78er- und 45er-Scheiben von Bill Haley und Eddie Cochran beisteuerte. Ich nahm sie mit zu Syd und dann versuchten wir gemeinsam, anhand dieser Schallplatten Gitarre spielen zu lernen. Syd mochte alles. Heute redet jeder darüber, dass er so auf Bo Diddley abgefahren sei, aber in Wirklichkeit war er viel umfassender orientiert.“
Der 14-jährige Waters befand sich im idealen Alter für Rock’n’Roll, stand der Sache anfangs jedoch skeptisch gegenüber. Stattdessen tendierte er musikalisch zu Dixieland- und Blues-Musikern wie Bessie Smith. „Eigentlich alles“, bekannte er später, „außer Rock’n’Roll.“ Nachdem er sich die Gitarre eines Onkels zugelegt hatte, nahm er klassischen Unterricht bei einer ortsansässigen Lehrerin. Später gab er jedoch zu, bald schon wieder aufgehört zu haben, da ihm seine Finger wehtaten: „Ich fand es einfach viel zu schwer.“ David Gilmour teilte die Vorbehalte seines zukünftigen Bandkollegen in Bezug auf Rock’n’Roll kein bisschen. „Ich bin nicht sicher, ob ‚Rock Around the Clock‘ die erste Platte war, die ich mir kaufte, aber zumindest war es eine der ersten“, erinnerte er sich. (Später erwähnte er, dass die besagte 78er-Single zu Bruch gegangen sei, als das Au-Pair-Mädchen der Familie versehentlich darauf Platz genommen habe.) Doch Gilmour war ohnehin vielmehr von Elvis Presleys „Heartbreak Hotel“ angetan, das ein Jahr später folgte. Zuhause umfasste die Schallplattensammlung seiner Eltern außerdem noch zahlreiche Blues-78er. Wie Waters und Barrett entdeckte auch Gilmour Radio Luxemburg für sich und wurde von diesem Sender mit einem abwechslungsreichen Musik-Mix versorgt, der auf keiner britischen Radiostation zu hören gewesen war. Er war nicht allein: Außer ihm lauschte noch eine ganze Generation englischer Rockmusiker den wunderlichen Klängen, die von der anderen Seite des Kanals ausgestrahlt wurden.
Obwohl sich auch Gilmours musikalische Ausbildung nun in vollem Gange befand, hatte sein formeller Bildungsweg bereits im Alter von fünf Jahren begonnen, als er ins Internat geschickt wurde. Doug Gilmour hatte beschlossen, einen sechsmonatigen Forschungsurlaub von der Cambridge University anzutreten und diesen mit Sylvia im Mittleren Westen der USA zu verbringen. Die Kinder wurden inzwischen nach Steeple Claydon in Buckinghamshire geschickt, wo sie das folgende Schuljahr verbringen sollten. „Meine Eltern liebten einander und genossen ihre gemeinsame Zeit, und wenn ich ehrlich bin, glaube ich, dass sie uns als eher unpraktisch empfanden“, erzählt Gilmour 2006 in Mojo. „Als wir noch sehr klein waren, machten wir noch zusammen Ferien, doch sobald wir alt genug waren, wurden wir bei den Pfadfindern oder so geparkt. Wir fuhren nie wieder gemeinsam in den Urlaub.“
Jahre später stieß Gilmour auf Briefe und ein Tagebuch aus jener Zeit, als er und seine Geschwister auch nach der Rückkehr der Eltern noch in