Nach dem eiligst einberufenen Meeting, an dem Vertreter der Metropolitan Police und der Royal Parks Agency teilnahmen, gibt Tessa Jowell nun jedenfalls grünes Licht für eine Fortsetzung der Show. Es heißt sogar, dass Decken an jene Konzertbesucher verteilt werden sollen, die sich dafür entscheiden würden, die Nacht im Park zu verbringen. Erst am nächsten Tag würde das Publikum aus den Zeitungen erfahren, dass das Konzert kurz vor dem Abbruch gestanden hatte.
Doch für jeden, der auch nur einen Hauch einer Ahnung von der Beziehung zwischen den einzelnen Bandmitgliedern von Pink Floyd hatte, bestand das eigentliche Wunder darin, dass die Gruppe sich überhaupt zu einem Auftritt überreden hatte lassen.
Live 8 war gekennzeichnet durch ein paar herausragende und ein paar weniger herausragende Auftritte. Auch gab es die üblichen peinlichen Momente, die sich ereignen, wenn Pop-Stars der guten Sache wegen zusammenkommen. Der Organisator des Events, Sir Bob Geldof, hatte den Hochadel der Popmusik zusammengetrommelt, wobei er auf dieselbe Überzeugungsarbeit wie schon bei Live Aid 1985 zurück gegriffen hatte. Er hatte nämlich angedeutet, dass jeder Act, der die Einladung ausschlug, seine Glaubwürdigkeit und seinen Ruf nachhaltig beschädigen würde. U2, Madonna, Sir Elton John, Sir Paul McCartney sowie eine Reihe jüngerer, noch nicht in den Adelsstand erhobener Rockstars folgten dem Aufruf, sich kostenlos in den Dienst der guten Sache zu stellen. Die Reihenfolge der Auftritte erschien willkürlich – Newcomer folgten auf alte Haudegen –, doch als die Uhrzeit voranschritt, offenbarte sich eine Art Hierarchie. Rund um den Globus fanden insgesamt zehn Konzerte in weiteren Metropolen wie Rom, Berlin und Philadelphia statt. Doch für viele, die sich zu diesen Events einfanden, war es der Auftritt einer einzigen Band in London, der sie dazu bewogen hatte. Wie Geldof widerwillig eingesteht: „In den Vereinigten Staaten wird dem Umstand, dass sich jene Band, deren Karriere nur so vor Durcheinander strotzt, bereit erklärt hat, bei Live 8 aufzutreten, viel mehr Aufmerksamkeit zuteil als dem Event selbst.“ An jenem Tag, an dem Pink Floyds Auftritt publik wurde, machte ein Gerücht die Runde, demzufolge ein Promoter 250 Millionen Dollar für eine vollständige Tour des Quartetts bieten würde.
Pink Floyds Laufbahn als Aufnahmekünstler begann im Jahr 1967. Seit damals haben sie allein 30 Millionen Exemplare ihres Albums von 1973, Dark Side of the Moon, verkaufen können. Trotz allem drohten ihre öffentlich ausgetragenen bandinternen Konflikte mitunter ihre künstlerischen Leistungen zu überschatten. Seit 24 Jahren hatten sie nicht mehr als Vierergespann gemeinsam auf einer Bühne gestanden. In der Zwischenzeit hatte das Trio Gilmour, Wright und Mason weiterhin als Pink Floyd Platten veröffentlicht und Tourneen absolviert, während der vormalige Bassist der Gruppe, Roger Waters, der auch als produktivster Songwriter und allgemein anerkannter kreativer Anführer fungiert hatte, von außen seinen Unmut darüber kundtat. Einmal verkündete er sogar, dass seine vormaligen Kollegen quasi sein Kind in die Prostitution verkauft hätten: „Und das werde ich ihnen niemals verzeihen!“
Vergebung mag zwar nicht auf dem Tagesprogramm gestanden haben, doch galt für diesen einen Tag eine Art Waffenstillstand zwischen den vier Musikern. Pink Floyd hatten seit 1994 kein Album mehr aufgenommen. Unter normalen Umständen hätte es einen beschwerlichen Prozess dargestellt, die Band, die Gitarrist David Gilmour als „schwerfälligen Giganten, der sich kaum aus seiner Starrheit holen lässt“, zu reaktivieren. Doch der gute Zweck und Geldofs Expertise als Überredungskünstler ermöglichten es, dass gerade einmal drei Wochen zwischen Gilmours zögerlicher Zusage und dem Auftritt der reformierten Pink Floyd im Hyde Park vergingen.
Um 22 Uhr 17 betritt Großbritanniens größtes Fußball-Idol, David Beckham, die Bühne, um Großbritanniens größtes Pop-Idol, Robbie Williams, anzukündigen. Robbies Stimme ist merklich angeschlagen, doch er schlüpft mühelos in seine Rolle, die zu gleichen Anteilen aus Teenieschwarm und Slapstick-Komiker zu bestehen scheint. Er legt sich fürwahr ins Zeug und man kann sich nur schwer vorstellen, dass sonst noch irgendwer das Publikum so für sich einnehmen würde können. Die Situation verheißt jedenfalls nichts Gutes für den nächsten Act, The Who. 1964 hatte sich „My Generation“ von The Who für Pink Floyds Drummer Nick Mason, der damals am Regent Street Polytechnic Architektur studierte, als eine Art Offenbarungserlebnis erwiesen: „Ja, das ist es, was ich machen möchte.“ Nachdem bereits zwei der ursprünglichen Besetzung das Zeitliche gesegnet hatten, liegt es nun an den verbliebenen Mitgliedern Roger Daltrey und Pete Townshend sich mithilfe von ein paar Begleitmusikern durch „Who Are You“ und „Won’t Get Fooled Again“ zu ackern. Sie scheinen das Publikum zu ignorieren und Pete Townshend, der sich hinter undurchsichtigen Sonnenbrillen verbirgt, vermeidet sogar jeglichen Augenkontakt. Ihre musikalische Darbietung ist makellos und vermittelt ansatzweise gar die glorreiche Widerborstigkeit vergangener Zeiten, doch ist ihr Auftritt auch schon wieder vorüber, noch bevor er richtig begonnen hat.
Der Event läuft nun schon seit fast zehn Stunden und der Park ist in tiefschwarze Dunkelheit getaucht. McCartney soll das Abschlusskonzert der Veranstaltung bestreiten und hinter den Kulissen werden vermutlich bereits die Decken für jene ausgepackt, die sich entschlossen haben, die Nacht unter den Sternen zu verbringen. Ohne jedes Intro oder irgendeine Ankündigung durch einen Prominenten erklingt um 22 Uhr 57 ein unheimliches, aber vertrautes Geräusch im Park. Plötzlich verziehen sich die Roadies von der Bühne in den Backstage-Bereich. Die Intensität des Geräuschs nimmt zu. Es ist ein beständiger, metronomischer Pulsschlag. Suchscheinwerfer schwenken über das Publikum und die Videoleinwand auf der Bühne wird in Betrieb genommen. Der Pulsschlag wird immer lauter. Schließlich ertönt eine Stimme: „I’ve been mad for fucking years.“ Es handelt sich dabei um einen Kommentar eines Roadies der Band, der fast 30 Jahre zuvor in den Abbey Road Studios mitgeschnitten wurde. Darauf folgt das ominöse Schwirren der Rotorblätter eines Hubschraubers, der Klang einer Registrierkasse sowie zusammenhangloses Gelächter. Diese Geräuschkulisse läuft in Endlosschleife, bevor sie in einen langgezogenen, hysterischen Schrei mündet, der auch das Ende des allerersten Tracks von Dark Side of the Moon, „Speak to Me“, markiert. Zuerst scheint der markerschütternde Schrei noch an Intensität und Lautstärke zuzunehmen. Dann erklingen die ersten beruhigenden Takte von „Breathe“. Als die Suchscheinwerfer gedimmt werden und die Bühne in hellem Licht erstrahlt, können die Konzertbesucher zum ersten Mal die vier Männer, die auf der Bühne stehen, genauer sehen. In einer kuriosen Umkehr des Dogmas aus Der Zauberer von Oz, „nicht hinter den Vorhang zu blicken“, konzentriert sich unsere Aufmerksamkeit ausschließlich auf diese vier Männer. Die Bilder von vertrauten Pink-Floyd-Motiven, die hinter ihnen über die Videoleinwand ziehen, vermögen es nicht, uns von der Gruppe abzulenken. In der Vergangenheit hatte die Band in ihrer Anonymität geschwelgt.
Mit ihrer zunehmenden Popularität waren auch ihre Bühnenaufbauten immer größer geworden, um das Publikum von den vier unscheinbaren, langhaarigen Männern auf der Bühne abzulenken. Ab 1980 traten sie hinter einer speziell angefertigten Mauer auf, was Roger Waters’ hochmütigem Protest gegenüber der entmenschlichten Natur der Musikindustrie geschuldet war. Als Gilmour dem „schwerfälligen Giganten“ in den Achtzigern und Neunzigern neues Leben einzuhauchen versuchte, umgaben sich die drei verbliebenen Mitglieder mit jüngeren Studiomusikern und tänzelnden Hintergrundsängerinnen und verbargen sich hinter einer Lasershow, vor der auch ein Steven Spielberg seinen Hut gezogen hätte.
Heute Abend wirken Pink Floyd jedoch verblüffend real. Sie erinnern an eine leger gekleidete Gruppe von Geschäftsleuten, die den 50. Geburtstag bereits hinter sich gelassen haben – fast so, als ob sie sich in einem Clubhaus versammeln und nun darauf warten würden, dass der Regen nachließe, damit sie sich auf den Golfkurs begeben könnten. Allerdings würden ihre verwaschenen Jeans die Kleidungsvorschriften des Clubs dann doch ordentlich strapazieren.
Im Hintergrund trommelt Nick Mason, dessen Gesichtsausdruck sich irgendwo zwischen akribischer Konzentration und einem wissenden Lächeln eingependelt hat, auf sein Schlagzeug ein. Als Autor eines jüngst erschienenen Buchs über die Band steht Mason mittlerweile am ehesten im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung und ist am geübtesten im Umgang mit den Medien. Die Wunde, die durch seine Entscheidung, nach dem Ausstieg seines engen Freundes Roger Waters bei der Band zu bleiben, geschlagen wurde, ist gerade erst verheilt. Der selbsternannte Diplomat der Band (später bezeichnete er sich gegenüber Journalisten als „Kissinger der Rockmusik“) war auch ein wichtiger Unterstützer Geldofs bei den Verhandlungen