Ich schaue mich vorsichtig um, verlasse die Bank. Paranoia ist jetzt meine ständige Begleiterin. Immer die Angst vor Verfolgern und vor allem dem Eingesperrtsein in einer Zelle.
Ich muss zum Bahnhof und von dort mit dem Regionalexpress nach Frankfurt. Zum Hauptbahnhof nach Mannheim traue ich mich nicht. Das ist für die Polizei sicher das Naheliegendste, dass ich von dort abhaue.
Der Aushangfahrplan zeigt mir: Der erste Regio-Express fährt um 03:48 Uhr, in 40 Minuten, Gleis 5. Eine lange Warterei mit Hummeln im Hintern. Nach 30 Minuten fällt mir ein, dass ich noch ein Ticket brauche. Ich renne zum Fahrkartenautomaten auf Gleis 1. Das Verfahren ist umständlich und dauert. Da wird die Einfahrt des Zuges angesagt. Vier Minuten bis zur Abfahrt. Los, verdammt, mach doch! Ich schlage sinnlos auf den Automaten ein.
„Was soll das?“, höre ich eine Stimme hinter mir. „Wollen Sie den Automaten kaputt machen!“
Ein Polizist.
Alte Zeiten – Viktoria
Ach, wie schön ist doch das Leben. Ach, wie beschissen ist doch das Leben. Zwischen diesen Polen bewegt sich mein Dasein nach der Trennung von Ingrid. Ein Jahr lang waren wir ein Kopf und ein Arsch, oder wie dieser blödsinnige Spruch lautet. Aber weil ich die Finger nicht von ihrer Freundin lassen konnte, hatte sie mich dann buchstäblich vom Acker gejagt. Viktoria hieß die Freundin. Viktoria, die Siegerin. Groß, schlank, blond und so ziemlich für alles aufgeschlossen. Aber sie war alles andere als eine Siegerin. Als regelmäßiges Ritual wurde sie von ihrem Vater, einem fanatischen, christlichen Fundamentalisten, verprügelt und wohl auch missbraucht. Worüber sie nie mit mir gesprochen hatte, aber ich konnte eins und eins zusammenzählen. Es waren ihre äußeren Reize und, ich geb es zu, auch Mitleid, was mich schwach werden ließ.
Ach Ingrid, warum übtest du keine Nachsicht mit einem inzwischen Sechzehnjährigen, der in diesem zarten Alter schon glaubte, Nachholbedarf zu haben. Sofern man in diesem Alter weiß, was Liebe ist, wusste ich, dass ich Ingrid liebte. Und Viktoria? Hm, schwer zu sagen. Aber wenn ich von meinen Träumen damals, wenn es nicht gerade Alpträume waren, ausgehe, so war es einzig und allein Ingrid, die mich nach der Trennung nächtens heimsuchte, also auch ein Alptraum, in Wehmut. Viktoria kam da nur am Rande vor. Und ich Hornochse hab mir das mit Ingrid versaut. Tränen? Scheißdrauf, mit sechzehn, als Junge, da weint man nicht. Doch, man weint, und meine Mutter hat mich damals über meinen Kummer hinweggetröstet. Sie nahm mich in den Arm und meinte: „Mein Kleiner (mein Kleiner!), das wird nicht das letzte Mal in deinem Leben gewesen sein, da müssen wir alle durch, zumindest wir, die wir uns ein zartfühlendes Herz bewahrt haben. Das hatte früher auch dein Vater, bis er zu saufen anfing.“
Aber was treibt einen Mann, der früher nie Alkohol getrunken hatte, dazu, das Saufen anzufangen? Eine verlorene Liebe?
Ach was, da hätte ich auch mit der Sauferei angefangen nach dem Liebesaus mit Ingrid.
Nein, mein Vater war nach 30 Jahren beim Benz entlassen worden, freigestellt, wie es so zynisch hieß. Innerbetriebliche Sparmaßnahmen. Wär ja noch schöner, wenn man auf jeden Rücksicht nehmen wollte, egal, wie lange er schon dabei war. Meinen Alten hatte das völlig aus der Bahn geworfen. Da macht es ihm der Tröster Schnaps viel leichter, das halbwegs zu verkraften. Er zerriss sein SPD-Parteibuch und trat der DKP bei.
„Bei den Sozen war ich auch 30 Jahre und – was hat’s uns genutzt? Kein SPD-Betriebsrat hat uns geholfen. Genossen der Bosse, das waren die!“
Sogar mit den Zielen der RAF hat er sympathisiert, aber deren Morde abgelehnt. So war er, mein Alter, herzensgut und vom Le-ben bitter enttäuscht. Der Seelentröster Alkohol hat ihn schließlich aus dem Sattel geworfen und ihn mit 56 Jahren ins Grab befördert. Da war ich 20 und bei den Jusos mit sozialistischer Theorie und Plakate kleben beschäftigt. Das Herunterreißen von NPD-Plakaten gehörte zur Grundausbildung.
Frankfurt
Ein Polizist steht hinter mir, Bundespolizei, der hat sicher ein Bild von mir dabei und nimmt mich jetzt hopps!
„Hör’n Sie damit auf!“, brummt er mit strafendem Gesichtsaus- druck nach meinem letzten Schlag auf den Fahrkartenautomaten, „sonst wird’s noch Sachbeschädigung, und über die kann ich nicht wegsehen.“ Sprichts und steigt in den inzwischen bereitstehenden Zug nach Frankfurt. Den Felsbrocken, der mir vom Herzen gefallen ist, hat er wohl nicht gehört.
Im Automat rattert es und er spuckt endlich das Ticket aus.
In letzter Sekunde, bevor sich die Tür schließt, springe ich in den Zug. Wo ist der Polizist? Den sollte ich weiträumig umgehen. Ich sehe, wie er gerade die Tür zur Zugtoilette öffnet und darin verschwindet, gefolgt von einem überaus lautstarken Furz. Irgendwie menschlich: eine furzende, beamtete Respektsperson.
Glück gehabt. Hätte der meinen Steckbrief, den es vielleicht inzwischen gibt, hätte er mich vermutlich sofort festgenommen. Hat er aber nicht. Gleich hinter der nächsten Tür sinke ich in einen mit Eddingkritzeleien beschmierten Sitz. Der Uniformierte schreckt mich jetzt nicht mehr. Der scheint mit etwas anderem beschäftigt zu sein. Durchfall! Schließe ich messerscharf aus der Geräuschkulisse, die aus dem Zugklo dringt. Ich bin amüsiert und wenig später – eingeschlafen.
„Junger Mann, Endstation, Sie müssen aussteigen!“
Vor mir steht der Polizist und rüttelt an meiner Schulter.
Ein bisschen blass ist er um die Nase. Ob der wohl noch seinen Dienst antreten kann oder hat er Feierabend? Der Weg zur Arbeitsstelle, Lampertheim oder Frankfurt? Ist wohl ziemlich weit.
Jedenfalls ist nicht zu übersehen, dass ich in Frankfurt bin. Die riesige Bahnhofshalle mit ihren stählernen Trägern ist ein imposantes Bauwerk. Das geschäftige Treiben, auch nachts, mit seinem Sprachengewirr und dem ständigen Umherirren von Menschen, die mit lautem Poltern ihrer Rollkoffer in großer Eile zu ihren Zügen hetzen, hat mich schon immer fasziniert. Ich schnappe mir meinen feuerroten Rucksack, drapiere die Jacke darüber und verlasse den Zug. Und dann bin ich mittendrin im Gewühl.
„Pass doch auf du Depp!“ Ein blonder Hüne hat mir seinen Koffer in die Wade gerammt. Er schaut mich drohend an und hebt die Faust.
„Entschuldigung“, sage ich kleinlaut, eingedenk meiner so lange zurückliegenden Lampertheimer Erfahrung. Feigling, sage ich leise zu mir selber, eigentlich hätte sich der entschuldigen müssen. Aber der kann froh sein, dass ich mich nicht auf eine Schlägerei eingelassen habe, wäre dem schlecht bekommen, oder? Wie auch immer, ich kann mich nicht auf eine Schlägerei einlassen. Hier steht an jeder Ecke ein Polizist. Muss wohl so sein, Frankfurt eben!
Die Fahrplantafel: Den TGV, mit dem ich noch nie gefahren bin, kann ich vergessen, der fährt über Mannheim, das inzwischen zum heißen Pflaster für mich geworden ist. Wie gerne wäre ich mit diesem legendären Hochgeschwindigkeitszug gefahren. Sei’s drum, vermutlich hätte mir der Fahrpreis ohnehin ein zu großes Loch in meine Reisekasse gerissen. Die 1.000 Euro, die ich abgehoben habe, sind ein Tropfen auf den heißen Stein für das, was ich vorhabe.
Paris, (m)ein Sehnsuchtsort. Aber auch Schauplatz einer der fürchterlichsten islamistischen Anschläge: Charlie Hebdo! Auch ich hatte mir ein T-Shirt gekauft mit der Aufschrift „Je suis Charlie“. Aber das Flair dieser Stadt kann nichts zerstören.
Ich habe noch Zeit, bis der Regionalexpress nach Saarbrücken fährt. Ich gehe durch die große Halle auf den Bahnhofsvorplatz.Da steppt der Bär! Gesprächsfetzen vieler Sprachen schwirren durch die Luft. Das Elend der Bettler und Drogensüchtigen springt mich an wie ein Alptraum. Leere Schnapsflaschen liegen überall herum. Einige Obdachlose streiten sich um eine Bierflasche.
„Du Penner, die Flasche habe ich gekauft, und ihr alle,