Gerd war gerade fünfzehn geworden, als wir im Krankenhaus an seinem Bett standen, zusammen mit seinen Eltern. Seine Mutter hielt seine Hand und der Vater strich ihm immer wieder zitternd über die schweißverklebten Haare. Wir drei harten Jungs konnten unsere Tränen nicht mehr zurückhalten, als Gerd ganz leise mit brüchiger Stimme flüsterte: „Lasst nur Jungs, ich bin froh!“
Dann war es vorbei und ich öffnete das Fenster, weil ich damals noch fest daran glaubte, dass die Seele nach dem Tod zum Himmel flöge.
Hildegard und die Nachbarn
Mein Scheiß-Gips, Hildegard hat ja recht. Ein blaues Auge habe ich ihr mit diesem harten Trumm schon im Schlaf verpasst und Sex wird damit zur Lachnummer, weil das Teil immer irgendwie im Weg ist, egal in welcher Stellung. Das Kamasutra sieht hierfür auch nichts vor. Ich bin frustriert und leide am Entzug.
Sündige Gedanken, die um die dunkelhaarige Gymnastikerin am gegenüberliegenden Fenster kreisen, verbieten sich aus den vorgenannten Gründen von selbst, ich will mich ja nicht blamieren! Herrgottnochmal, wann werde ich diesen Spielverderber endlich wieder los?
Es ist soweit: Sechs Wochen sind um und der Spielverderber-Gips ist ab. Damit rückt die Nachbarin wieder in den Fokus. Die hat einen Hund, mit dem sie jeden Morgen um sieben Gassi geht. Dass ich mir extra deswegen auch einen Hund zulege, wäre zwar überlegenswert, aber das scheitert wohl an Hildegard, die eine panische Angst vor Hunden hat.
Es war zwar nur ein Rehpinscher, der ihr vor Jahren einmal in den linken großen Zeh gebissen hatte; sie war im Sommer meistens barfuß unterwegs, was somit nicht nur schmerzhaft war. Hinzu kam, dass sie dann mit dem rechten Fuß vor Schreck in die Kacke trat, die dieser Hundezwerg gerade abgelassen hatte. Barfuß laufen war seither passé und Hunde hatten es dann sowieso bei ihr buchstäblich verschissen! Ist also nix mit Hund besorgen!
Wie soll ich dann sonst mit der in Kontakt treten?
Nordic-Walking – das isses. Die Stöcke stehen noch im Keller seit Hildegards sportlicher Phase. Ich find’s zwar peinlich, weil mir dazu stets ein alter Spruch eines Kabarettisten einfällt: Eine viertel Stunde Lachen ist gesünder als eine Stunde Nordic-Walking und sieht nur halb so Scheiße aus.
Die Türklingel ertönt mit ihrem blödsinnigen Gezwitscher, das vermutlich einem Kanarienvogel nachempfunden sein soll, ge- hört endlich mal abgeschafft, dieses Mistding. Mir schwebt eine Mischung aus Elefantentrompete und schwanzgetretener Katze vor. Soll man angeblich alles im Internet bestellen können.
„Ich geh!“, ruf ich laut. Warum eigentlich? Hildegard ist doch gar nicht da, beim NKD gibt’s wieder billige BHs für 3,99!
Stets vorzuhalten, unter welchen Umständen die Dinger in Bangladesch oder sonstwo hergestellt werden, wird immer mit spöttischem Lächeln quittiert: „Deine halbe Garderobe ist doch von denen, beste Qualität, hast du immer gesagt, weil ich dir weisgemacht habe, das alles stamme vom Engelhorn!“
Engelhorn! Das Hochpreis-Kleidungshaus in der Mannheimer City! Ich hab’s immer geglaubt, ich Depp! Seit wann gibt es Engelhorn-Unterhosen, bei denen einem nach einmal Tragen das Gemächte zur Seite rausbaumelt, weil ausgeleiert? (Der Slip!)
Ich hätte es wissen müssen, nachdem sie sich vehement gewehrt hatte, die Dinger umzutauschen. „Unterwäsche wird nicht umgetauscht!“ Da hatte sie auch wieder recht.
Ein mysteriöses Paket
Ich lauf zur Tür, draußen steht ein Paketbote: „Ein Paket für Sie!“ Ein Paket für mich, ich hab doch nichts bestellt? Ich geb 50 Cent Trinkgeld, ich weiß ja, wie schlecht die Jungs bezahlt werden. Wär’ immerhin eine Mark! Ich rechne immer noch in D-Mark, verfluche den Kohl für seinen 1:1-Umtausch der DDR-Aluchips und ärgere mich über den Undank der Ossis, die jetzt der AfD hinterherlaufen, wo ich doch mit meinem Soli dort für „blühende Landschaften“ gesorgt habe! Ist doch wahr, oder nicht?
Egal, hier ist ein Paket für mich, ohne Absender, und ich weiß nicht, ob ich es einfach so aufmachen soll. Schwere Entscheidung, vielleicht ist ja eine Bombe drin, man weiß ja nie, heutzutage. Ich grabe in den entlegensten Windungen meines Gehirns, wem ich schon alles auf die Füße getreten bin. Einem Arschloch von Schulleiter, dem mein politisches Engagement wohl nicht gepasst hatte, weil ich ihm zu links war. Einem Unsympath, der sich eine leitende Stelle in einer Bürgervereinigung kapern wollte und sich hinterher als Nazi entpuppt hatte. Aber vielleicht kam ein Widersacher ja aus meiner unmittelbaren Umgebung: Der Unglücksschwabe aus dem Nachbarhaus, den ich damals verspottet hatte, als er von seinem Bierkistenstapel fiel. Dem würde ich das zutrauen. Auf der anderen Seite: Für eine Bombe musste man ja Zutaten besorgen, die kosten halt und der Kerl ist Schwabe.
Erst am Abend traue ich mich, das Paket zu öffnen. Wird schon nichts passieren und wenn doch, hat meine Hildegard eine Sorge weniger. Also, eine Schere muss her! Ach nein, der Absender hat dankenswerter Weise nur eine Schleife gemacht, also Augen zu, kurz durchgeatmet und dann daran gezogen. Nichts passiert, aber vielleicht habe ich ja einen Zeitzünder angeworfen. Kurz entschlossen, mit dem Mut der Verzweiflung reiße ich den Karton auf. Ich traue meinen Augen nicht!
Das Opernglas
Vor vielen Jahren war ich mal mit einer Freundin, ja, es gab auch mal ein Leben vor Hildegard, im Nationaltheater, „Don Giovanni“. Ich wusste, was das bedeutete: Fast drei Stunden nur Gesang, sowas Unrealistisches, wer unterhält sich so lange nur singend? Aber ich wollte nicht als Kunstbanause gelten und außerdem hatte mir Ute ihr Abendkleid vorgeführt und testosterongetrieben wie ich damals war, hatte ich nur auf ihr gewagtes Dekolleté gestarrt.
„Komm wieder zu dir“, hatte sie gegrinst. „Was ziehst du an?“
„Ich hab einen nagelneuen Jogginganzug.“
„Blödmann! Ich hab noch einen schwarzen Anzug von meinem Ex hier!“
„Kommt nicht infrage, ich zieh doch keine abgelegten Klamotten von einem abgelegten Lover an!“
Gut, der Anzug hatte gepasst, nachdem ich zu dem Gürtel noch ein Paar Hosenträger angeschnallt hatte. Der Kerl musste ja klap-perdürr gewesen sein.
Derart aufgebrezelt – Herrgottnochmal, die sah aber wirklich zum Anknabbern aus – zwängten wir uns in ihren „Ford ka“.
Ich hätte mir für diesen Abend schon etwas Besseres vorstellen können als diese Mozart-Oper. Aber Ute war nun mal extrem kulturbeflissen und die Rolle als Spielverderber stand mir halt nicht.
Heutige Vergleiche mit Hildegard verboten sich von selbst.
Hildegard ist bodenständig und warmherziger und außerdem war Ute wieder zu ihrem Verflossenen zurückgekehrt, den sie nicht vergessen konnte. Nun ja, lange vorbei und ich weiß, was ich an meiner Hildegard habe.
Trotzdem blieb mir dieser Opernabend in unangenehmer Erinnerung. Ich war trotz der lauten Singerei eingeschlafen und Ute musste mir mehrmals heftige Rippenstöße verpassen, weil ich ge-schnarcht hatte. Die missbilligenden Blicke meiner Umgebung brennen mir heute noch auf der Haut. Wir saßen im Parkett und ich sah gelegentlich hoch zu den Logen, in denen affektierte Damen durch ihre Operngläser auf das Geschehen auf der Bühne blickten. Und eben so ein Ding liegt nun in dem Paket: ein Opernglas! Ein Papier in reinstem Bütten liegt dabei: „Damit sie mich besser sehen können!“ Unterschrift: „Gabi, Ihre Nachbarin von gegenüber! PS: 23.00 Uhr, ich bin noch wach!“
Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Will sie mich verarschen oder hält sie mich für einen Spanner? Oder ist es gar eine Aufforderung zu mehr? Sieht so aus. Was tun, sprach Zeus. Soll ich mit dem Ding weiter zu ihr rüberstarren oder ihr einen Besuch abstatten? Nur gut, dass Hildegard nicht da ist, das hätte einen riesigen Ehekrach gegeben! Mädelsabend, das kann dauern.
Ich entschließe mich zum Besuch und ziehe eine flotte Jeans an und dieses blau karierte Hemd, das Hildegard so schön findet, damit kann ich sicherlich Eindruck schinden. Eindruck schinden?
Will ich das wirklich oder befinde ich mich nach so langer Zeit wieder im Jagdmodus? Mensch, ich bin doch keine zwanzig mehr und hole mir bestimmt eine Abfuhr!