Wie, was? Was fasle ich da vor mich hin? Hat mich diese Gabi jetzt völlig Gaga gemacht? Mit achtzehn hatte ich mal so ne Phase, als ich mit Kumpels zu viel gekifft hatte. Diese Phase ist längst vorbei, naja, manchmal gibt es einen Rückfall in alte Zeiten, weil ich mich halt nicht mit meinem Alter abfinden kann. Die Midlife-Krise ist doch auch schon längst vorbei! Ich sinniere und sinniere und merke gerade, dass ich schon auf dem Weg zu ihr bin. Ich Blödmann, was tue ich eigentlich, ist mir meine Ehe egal? Egal ist mir nicht, dass ich wie in Trance die Treppe hinuntergelaufen, den Gehweg um den Block genommen und bei ihr geklingelt habe.
Gabi Hoffmann, das wird sie wohl sein. Es tut sich nichts, aber jetzt kommt gerade ein älterer Mann, der sich an einem, offenbar handgeschnitzten, Gehstock festklammert, heraus und hält mir die Tür auf. „Danke!“, murmle ich und steige mit unendlich schlechtem Gewissen die Treppe zu ihrer Wohnung hoch. Im zweiten Stock gibt es nur eine Wohnung und neben der Klingel steht ebenfalls: Gabi Hoffmann.
Ich klingle nochmal und da bemerke ich, dass die Tür nur angelehnt ist. Schlamperei, murmle ich. Wenn man so aussieht wie die, sollte man doch tunlichst seine Wohnungstür geschlossen halten. Einen Freund hat sie ja augenscheinlich nicht. Hätte ich sicher längst von meiner Wohnung aus gesehen, ich schiele ja oft genug hinüber.
Vorsichtig drücke ich die Tür auf. „Hallo Gabi (darf ich doch sicher schon sagen), sind Sie da?“
Keine Antwort, merkwürdig. Im Flur liegt eine große rote Wasserrohrzange. Ist die Heimwerkerin? Schlampig scheint sie wirklich zu sein. Ich hebe das Teil auf und lege es auf das staubige Schuhschränkchen, das unter einem Mordsteil von einem Jugendstilspiegel steht. Jugendstil, der hat mir schon immer gefallen!
„Schönes Teil“, denke ich.
An der Wand im Flur einige große Schwarzweißfotos von längst verschwundenen Gebäuden Sandhofens. Das beleuchtete Transparent der „Broadway-Bar“ in der Hanfstraße, davor 50er-Jahre-Straßenkreuzer der Amerikaner, die Stammgäste der Bar waren. Daneben ein Bild des Eiscafés „Legüsa“, in dem ich als Kind mit meinen Eltern so manchen wunderbar großen Eisbecher verzehrt hatte. Vergangene Träume von wunderbarer Kindheit!
Ich gehe den endlosen Flur entlang, geschmacklose, gelb-rot karierte Tapete, an der Decke Spinnweben. Ich sag’s doch, schlampig! Hätte ich nicht von ihr gedacht, sah doch immer so adrett aus. An der Supermarkt-Kasse trug sie einen entzückenden Minirock. Den konnte ich sehen, wenn ich mich am Kassenband ein wenig streckte und dabei auch in ihre ziemlich weit aufgeknöpfte REWE-Bluse linsen konnte. Rechts eine Tür, die ins Wohnzimmer führt. Großer dunkler Flokati-Teppich und da liegt sie!
Als fleißiger „Tatort“-Gucker kommt mir das alles so bekannt vor: Erst die angelehnte Tür, die aber im Gegensatz zu jetzt meistens aufgebrochen wurde. Die Polizisten zücken ihre Waffen und suchen leise schleichend die Wohnung ab. Schranktüren und Schubladen aufgerissen, ein wildes Durcheinander überall und entweder kein Einbrecher zu sehen oder hinter einer Tür lauert einer und zieht dem eintretenden Beamten irgendein Teil über den Kopf und haut an dem verblüfften zweiten Polizisten vorbei ab. Statt hinterher zu rennen, hilft er zuerst dem verletzten Kollegen auf, neben dem die wahlweise männliche oder weibliche Leiche in ihrem Blut liegt.
Panik
Außer der Leiche, die einmal Gabi war, nichts von alldem. Sie hat einen Morgenmantel an, liegt auf dem Gesicht und aus ihrem Hinterkopf dringt ein dünnes Rinnsal: Blut.
Ich mache einen riesen Fehler: Ich renne in Panik davon, knalle die Tür hinter mir zu, die Treppe hinunter über die Straße in den nahe gelegenen Karl-Schweitzer-Park. Gegenüber ist das Polizeirevier. Plötzlich rennen einige Polizisten heraus, springen in zwei Streifenwagen und rasen mit Blaulicht und Martinshorn davon. Wissen die das mit Gabi etwa schon?
Quatsch, ihre Wohnung liegt ja gerade mal hundert Meter weg, da braucht’s keine Streifenwagen mit Blaulicht und Sirene. Das muss wohl was anderes sein.
Ich sitze auf einer Bank im Park, gerade mal ein paar Meter weg vom Tatort, die Polizeiwache noch immer im Visier. Mann, ich bin gerade vom Schauplatz eines Verbrechens (?) abgehauen. Hier kann ich nicht bleiben. Dass ich wohl bald zum Verdächtigen Nummer eins gehören werde, liegt auf der Hand. Ein Nachbar, der mich sicher erkannt hat, hat mich gesehen, als ich das Haus betrat. Eine große Wasserrohrzange, rot, auf der sicher Blutspuren waren und darauf meine Fingerabdrücke, genau wie an der Wohnungstür ... Noch dazu hat mich ein anderer Nachbar gesehen, als ich wie ein Irrer davongerannt bin.
Keine gute Ausgangsposition für dich, Mannilein!
Mannilein, jetzt benenne ich mich schon selbst mit dieser Verniedlichungsform, die ich überhaupt nicht leiden kann. Dabei fällt mir Hildegard ein. Die Vorwürfe, die mich sicher erwarten, wenn ich ihr gestehe, dass ich zu Gabi rübergeschlichen bin, sind wohl mein geringstes Problem. Dass ich sie umgebracht habe, glaubt sie natürlich nie im Leben, aber der Polizei kann sie erklären, was sie will. Sie ist meine Frau und hält zu ihrem Mann. Zur Entlastungszeugin taugt sie also nicht. Und dann begehe ich meinen zweiten großen Fehler: Statt zur Polizei zu gehen und die Sache aufzuklären, beschließe ich abzuhauen, was mich natürlich noch verdächtiger macht. Ich bin völlig kopflos und zu ruhiger Überlegung nicht mehr fähig. Abhauen, nur noch abhauen, mein ganzes Denken verengt sich auf dieses Wort! Erst mal fort von hier vom Dunstkreis der Polizei!
Lang genug nachgedacht, es ist bereits halb eins.
Weg, nur möglichst weit weg!
Mir gehen die alten Geschichten von Männern durch den Kopf, die nur zum Zigarettenholen gingen und spurlos verschwanden. Olle Kamellen, tausendmal erzählt in den verschiedensten Varianten. Aber, zum Teufel, so einer bin ich doch nicht! Ich hab eine Frau, die ich liebe, die lasse ich doch nicht einfach so im Stich. Ich will das nicht und doch tu ich’s! Knast, nur ein einziger Tag und ich verrecke! Ich leide an einer Klaustrophobie, ein Zimmer, von außen abgeschlossen, selbst in der eigenen Wohnung und ich krieg Schnappatmung. Ich ersticke und wundere mich, dass ich noch lebe, wenn die Tür wieder auf ist.
Hildegard ist bei ihrer Freundin und das kann dauern. Vorsichtig, mich immer wieder umschauend, schleiche ich mich nach Hause. Aus einer Schublade im Flur nehme ich meine Brieftasche mit Geld, Kredit- und Scheckkarte. Hastig schreibe ich einen Zettel und lege ihn auf den Wohnzimmertisch:
„Liebe Hildegard,
wir lieben uns und Du weißt, dass ich nichts getan habe. Bitte halte zu mir. Ich kann es nicht ertragen, eingesperrt zu werden, was bestimmt passieren würde, weil alles auf mich schließen lässt. Ich vermisse Dich schon jetzt, aber ich muss weg. Es tut weh, aber es geht nicht anders. Versuche nicht, mich anzurufen, ich lasse mein Handy ausgeschaltet, damit man mich nicht orten kann. Vertraue mir, ich melde mich, irgendwie!
In Liebe, Dein Manni.“
Hose, zwei Hemden, Unterwäsche, T-Shirt und Zahnputzzeug.
Das muss fürs Erste reichen! Ich packe alles in meinen feuerro-ten Rucksack und schleiche mich aus dem Haus. Feuerrot, der Rucksack, auffälliger geht’s wohl nicht. Aber was anderes finde ich auf die Schnelle nicht. Meine braune Jacke, die an der Garderobe im Flur hängt, werfe ich darüber, um das Rot etwas zu bedecken. Wer kam wohl auf die Schnapsidee, für mich einen roten Rucksack zu kaufen? Ja, ich weiß, ich war’s ... Rot ist halt meine Lieblingsfarbe. Vielleicht kommt das daher, dass ich als Jungspund eine Vorliebe fürs Rotlichtmilieu hatte, rein informatorisch, wohlgemerkt!
Flucht
Weg jetzt, ich weiß nicht wohin, nur weg von hier und möglichst viele Kilometer zwischen mir und diesem schrecklichen Ort.
Laufen, so schnell wie’s geht? Keine gute Idee, damit falle ich erst recht auf. Ich zwinge mich, langsam zu gehen, ich bin ja auf einem gemütlichen Spaziergang, nicht wahr?
Der Nachbar, der mich vorhin gesehen hat, glotzt mit stierem Blick aus dem Fenster und scheint mich gar nicht zu sehen. Aber der hat mich garantiert registriert! Weiß der schon was und ruft jetzt die Polizei an?
„Hey Manfred, wohin des Wegs?“ Kurt, ein Schulfreund, kommt mir entgegen und grinst mich mit dreckigem Gesichtsausdruck an. Ich kann ihn schon lange