Während langsam die Hitze des Feuers bis auf seine Knochen wirkte, kreisten Bowolfs Überlegungen um den seltsamen Überfall. Was hatte die Rätiser getrieben? Sie hatten zwei oder drei Hütten niedergebrannt. Bowolf rief sich das Bild in Erinnerung. Welche Hütten waren es gewesen? Das Vorratslager. Die Rätiser hatten es auf das Vorratslager abgesehen. Sie hatten die Wintervorräte der Mooka geplündert. Und weil neben dem Lager auch die Hütten der Weiber standen, waren ihnen die Weiber der Mooka ebenfalls in die Hände gefallen. Eine Hand und zwei. So muss es gewesen sein? Ein schneller und gezielter Überfall.
Dafür gab es nur eine Erklärung. Die Rätiser litten Hunger. Sie brauchten die Vorräte, sonst würden sie den Winter nicht überstehen. Und jetzt dämmerte Bowolf auch, was der Grund war. Die Rätiser mussten im Herbst den richtigen Zeitpunkt versäumt haben, über den Pass beim Glatschjer auf die andere Seite des gelben Berges zurückzukehren. Auf ihre Seite. Sie wurden vom Wintereinbruch überrascht, und saßen nun auf dieser Seite des Berges fest.
Ein grimmiges, triumphierendes Lächeln legte sich auf Bowolfs aufgesprungene Lippen. Das ließ die ganze Jagd in einem völlig neuen Licht erscheinen. Die Rätiser hatten keinen Fluchtweg. Sie besaßen kein sicheres Versteck. Sie hatten sich jetzt zwar mit Lebensmitteln und mit Frauen versorgt, aber sie waren ungeschützt und verwundbar. Bowolfs Hunger verschwand zwar nicht, aber diese neue Ausgangssituation ließ ihn das Knurren seines Magens leichter ignorieren. Er schmolz sich Schneewasser über dem Feuer, tränkte damit Mor und stillte den eigenen Durst, und wartete mit der unerschöpflichen Geduld des Naturgeschöpfs die Nacht ab.
In der Dunkelheit machte Bowolf sich wieder durch den Schnee auf den Weg zu seinem Beobachtungsposten oben in der Schneekuhle. Mor ließ er im schützenden Gehölz beim verglimmenden Feuer zurück. Er nahm beim Aufsteigen einen Stecken zu Hilfe, den er sich aus einem Strauch herausgeschnitten hatte. Diese Nacht war so kalt und so sternenklar wie die vorige. Irgendwo dort oben im Himmel herrschten die großen Mächte, dort lebten die Ahnen. Die andere Welt. Bowolf blickte hinauf, mit einem Blick, der Kraft und Zuversicht aus dem Bild der Sterne sog. Ihr Mächtigen, Hirjeka! Bowolf wird seine Feinde zerschmettern. Er wird sie zu euch hinauf schicken in die Anderswelt. Nicht mehr lange, dann ist es soweit. Freut euch auf sie.
Von der Kuppe herab stierte er lange in die Senke und auf die Felsformation, hinter der er die Pferde der Rätiser vermutete. Einmal vermeinte er, ein leichtes Schnauben zu hören. Die Felswand dahinter lag dunkel wie ein gefrorener Schatten. Die Rätiser würden sich hüten, in ihrer Höhle in der Nacht ein weithin sichtbares Feuer zu entfachen.
Der Mond stand nicht besonders günstig. Er warf modriges Licht auf die Senke. Wenn Bowolf in der Spur der Rätiser dort hinunterstieg, würde man ihn in seinem dunklen Fellmantel als schwarzen Punkt sofort erkennen. Knurrend schaufelte er sich Schnee über Haupt und Rücken, bis er eine weiße Haube trug. In gebückter Haltung stieg er ab. Der Schnee knirschte unbehaglich und zäh. Entschlossen bewegte Bowolf seinen Stecken vor sich her. Immer wieder hielt er an, kauerte, erneuerte seine weiße Haube und schielte zur Felshöhle hinauf, wo er seine Feinde vermutete. Gesehen hatte er noch keinen einzigen.
Endlich erreichte er die mehrere Mann hohe Felsformation am Fuße der Senke. Jetzt hörte er ganz deutlich die Pferde, wie sie schnaubten und sich schüttelten. Der Dampf der Tiere stieg hinter dem Felsen auf. Ihr Geruch hing in der Luft. Bowolf schlich um eine Felskante herum. Auf seiner Rückseite bildete der große Fels einen Überhang, der genug Schutz vor den Naturgewalten bot, so dass dort nur wenig Schnee lag. Hier hatten die Rätiser ihre Pferde untergestellt. Mit ein paar grob behauenen Stämmen und Ästen hatten sie ein loses Gatter errichtet und damit die Tiere eingepfercht. Es roch nach frisch geschältem Holz und nach Fichtennadeln. Das Gatter wäre kaum nötig gewesen, den ringsum türmten sich die Schneemassen. Kein Pferd wäre freiwillig aus dem schützenden Unterstand entlaufen, zumal dort auch ein großer Haufen Stroh und trockenes Laub aufgeschichtet lagen, das Fressen für die Tiere. Gab es eine Wache?
Fast hätte Bowolf den Mann übersehen. Er stand an den Fels gelehnt, zur Hälfte hinter einem Gestell aus aufgerichteten und gegeneinander gestellten kleinen Stämmen versteckt, die dazu dienten, eine weitere Ladung Stroh und Heu hoch und für die Pferde unerreichbar zu lagern. Der Rätiser machte seine Sache gut. Er stand regungslos, als sei er selbst einer der Stämme. Er hatte Bowolf den Rücken zugekehrt und spähte in die andere Richtung zum weit entfernten See hinunter, den er in der Nacht aber bestenfalls ahnen konnte.
Bowolf wog seine Streitaxt in der Hand. Er löste die Schlaufe vom Gürtel. Diese Waffe machte ihn sicher. Die Axt eines Häuptlings. Der lange hölzerne Griff war glatt und lag geschmeidig in seiner Hand. Die kupferne Klinge blitzte nur kurz im Mondschein. Ein Pferd wich aus und trippelte unwillig einige Schritte seitwärts, als Bowolf sich unter seinem Bauch hindurch in den Rücken des Wachtpostens brachte. Dann holte er aus, sprang den Gegner an und spaltete ihm den Kopf mit einem einzigen knirschenden Hieb. Der Wachtposten sank lautlos in die Knie, die Axt blieb im gespaltenen Schädel stecken und verursachte ein schmatzendes Geräusch, als Bowolf nicht gleich losließ. Er wartete, bis der Getötete im Schnee lag, dann riss Bowolf seine Waffe mit einem energischen Ruck wieder aus dem zerschmetterten Hinterkopf. Blut spritze und Hirn quoll hervor. Die Pferde protestierten mit leichtem Schnauben und drängten ihre frierenden Leiber aneinander. Bowolf verharrte in konzentrierter Anspannung. Er schnupperte und lauschte in die Nacht. Niemand rührte sich. Oben bei der Höhle blieb alles ruhig. Er versuchte abzuschätzen, wie weit der Eingang über ihm lag. In der Dunkelheit mochte er sich täuschen, aber er schätzte, dass man fünf oder sechs ausgewachsene Männer übereinander türmen müsste, um dort hinauf zu kommen. Vermutlich hatten die Rätiser Baumstämme zu Hilfe genommen, die sie dann hinaufgezogen hatten.
Gut! Das bedeutete, dass es auch eine Weile dauern würde, bis die Feinde wieder unten waren.
Bowolf verfolgte einen Plan, den er sich während des vergangenen Tages zurechtgelegt hatte. Er prüfte die Pferde. Manche trugen Zügel, einigen hatten die Rätiser Felldecken über den Rücken geschnallt. Es waren kleine, knochige Ponys, wie auch die Mooka sie züchteten, mit Schweifen bis auf den Boden und Mähnen so struppig wie Stroh. Diese Tiere waren zäh und winterfest. Allerdings würden sie nicht beliebig viele solcher Eisnächte in diesem luftigen Felsunterstand überstehen. Bowolf kam immer mehr zu der Überzeugung, dass diese Höhle nur ein vorübergehender Unterschlupf für die Rätiser war. Das konnte nicht ihr Winterquartier sein. Dagegen sprach auch die geringe Menge an Futter. Also planten sie, weiterzuziehen. Bowolf fletschte die Zähne wie ein Raubtier. Das würde er diesen unwürdigen, stinkenden Ziegenfressern gründlich verderben. Wieder stand das Bild von Gangam vor seinem inneren Auge. Dieser feige Dieb. Ein Mann mit gelben Haaren und ebensolchen Augen. Ein Krieger, den man fürchten musste. Bowolf hatte schon einmal mit Gangam gekämpft. Und mehrfach hatten sie sich gegenseitig die Pferde gestohlen und die Hütten angezündet. Aber diesmal gab es keinen Fluchtweg über den gelben Berg. Diesmal war Gangam gefangen auf Bowolfs Seite. Diesmal musste es zur Entscheidung kommen. Einer von ihnen beiden würde sterben. Bowolf würde Gangams Herz roh verspeisen. Und Seta befreien.
Die Pferde der Rätiser zeigten keine Scheu vor Bowolf. Wahrscheinlich verbreitete er den gleichen Gestank wie seine Feinde, so dass die Tiere Vertrauen fassten. Ein besonders auffälliger Hengst, offensichtlich das Leittier der kleinen Herde, ließ sich bereitwillig von Bowolf aus dem provisorischen Gatter hinausführen. Die anderen Pferde folgten nach kurzem Zögern. Die Schneezotteln in ihren vereisten Mähnen glitzerten wie kleine Edelsteine im Sternenlicht. Eines hinter dem anderen, die Ohren gespitzt und aufgereiht wie an einer Perlenschnur, stocherten die Tiere durch den Schnee. Drei mal zwei Hände. Kein einziges blieb zurück.
Wenn nur jetzt nicht einer der Männer oben in der Höhle wach wurde und herunterschaute. Die Pferde, obwohl sie ihren scheinbar farblosen Winterpelz trugen, hoben sich scharf gegen den hellen Schnee ab. Und sie machten Lärm, sie schnaubten, schlugen mit den Schweifen und rempelten einander an. Ihre kantigen Brustkörbe schoben durch den Tiefschnee. Brav folgten sie dem Leithengst, den Bowolf mit energischer Kraft hinter sich her zog. Er kehrte auf der Spur zurück an den Rand der Senke. Anstatt die Tiere hinauf auf die Kuppe zu zwingen, wo er seinen