Aschendorffer war platonisch in diese Frau verliebt, so wie man einst in Sophia Loren verliebt war. Bei Aschendorffer war diese Verliebtheit obendrein hoffnungslos, verklärt und feige. Feige, weil er es niemals gewagt hätte, seine Verehrung zu zeigen. Verklärt, weil alles heilig war, was außerhalb der Wissenschaft zwischen ihm und ihr geschah. Zum Beispiel, wenn sie ihn einmal am Arm berührte. Oder wenn er wegen eines nur schlampig geknöpften Laborkittels einen kurzen Blick auf Streifen ihres Oberschenkels erhaschte. Oder wenn sie die Arme hob, um ihr Haar zu knoten, und dabei ihre sauber rasierten Achselhöhlen präsentierte. Das waren heilige Momente, von denen Aschendorffer in all seinen Träumen zehrte. Was er hingegen niemals gewagt hätte, das war, sich Sex mit ihr vorzustellen. Insofern war seine Liebe platonisch. Für Sexfantasien hatte er Fräulein Mona; die war handfest, weltlich, real. Frederike Biesthal war überirdisch.
Wenn Aschendorffer ein privates Wort mit Frederike Biesthal wechseln sollte, was sich manchmal nicht verhindern ließ, so geriet er ins Stottern und schwitzte Bäche aus. Dann verknotete er die Hände unterhalb der Gürtelschnalle und fühlte sich bloßgelegt wie unter einem Kernspintomografen. Wenn das Gespräch hingegen dienstliche, wissenschaftliche Inhalte hatte, dann war er, wie bei ausnahmslos allen Gesprächspartnern, auch gegenüber Dr. Biesthal überheblich, schnoddrig, ungeduldig und um Längen überlegen.
Das Gespräch, das nun anstand, als er mit wehenden Kittelschößen und vorgestrecktem Laborröhrchen auf seine Stellvertreterin zustürmte, die hinter einem Specularmikroskop saß und sich Notizen über ihre Beobachtungen machte, war ein rein wissenschaftliches. Deshalb stotterte Aschendorffer auch kein bisschen.
„Frau Kollegin, Sie werden es nicht glauben ...“
Biesthal sah auf. Sie zog eine ihrer akkurat gezupften hellen Augenbrauen leicht nach oben. Die einzige sichtbare Gefühlsregung.
„Ich habe die Untersuchungsergebnisse für den Corpus aus dem Eis.“
„Den Sie gestohlen haben“, ergänzte Biesthal nüchtern.
„Den ich geborgen habe,“ korrigierte Aschendorffer. Er hielt Biesthal das Röhrchen unter die Nase. Sie ließ sich zu einer Regung auch der anderen Augenbraue herab: „Soll ich davon kosten?“
„Entschuldigen Sie.“ Er zog das Röhrchen wieder zurück. „Es war diese Gewebeprobe, die ich an der Hand des Leichnams genommen habe. Wollen Sie wissen, wie alt der Leichnam ist?“
„Sie werden es mir gleich sagen!“
„Erst habe ich vermutet, es handelt sich vielleicht um einen vermissten Bergsteiger, maximal um einen Soldaten aus dem letzten Weltkrieg. Aber es ist viel fantastischer.“
Aschendorffer sah sich verschwörerisch um. Als er sicher war, dass niemand mithören konnte, flüsterte er: „Fünfeinhalbtausend Jahre!“
Biesthal sah ihn verdutzt an. Jetzt zeigte ihr Gesicht doch ein gewisses Staunen. Ihr ungläubiger Blick richtete sich auf das Röhrchen, das der Professor immer noch umklammert hielt wie der Exorzist sein Kruzifix.
„Fünfeinhalb ...?“
Aschendorffer nickte eifrig. „Mehrfach überprüft! Ich habe Zellen und Knochengewebe.“
„Das ist unmöglich!“
„Wieso soll das unmöglich sein. Ötzi war genauso alt.“
„Mit dieser Probe haben Sie das herausgefunden?“ Sie deutete zweifelnd mit ihrem schlanken, feingliedrigen Zeigefinger auf das Röhrchen. Aschendorffer war wie immer fasziniert. Der Finger einer Göttin. Sie zog ihn, als sie den besoffenen Blick des Professors bemerkte, wieder zurück und verbarg die ganze Hand in der Seitentasche ihres Laborkittels. Sie besaß sehr wohl eine Ahnung davon, dass Aschendorffer sie vergötterte. Es war ihr lästig. Der Professor war schließlich kein richtiger Mann. Jedenfalls rein äußerlich nicht. Da gefiel ihr Dr. Amresh schon besser. Aber das hätte sie nie zugegeben.
„So ist es!“, bestätigte Aschendorffer.
Frederike Biesthal zweifelte keine Sekunde daran. Sie war es gewohnt, dass Professor Aschendorffer Recht hatte. Seine wissenschaftlichen Fähigkeiten waren atemberaubend, seine Methoden verblüffend, seine Ergebnisse revolutionär. Bei jedem anderen hätte sie Zweifel formuliert und darauf bestanden, dass er seine Untersuchungsmethode transparent machte. Bei Aschendorffer war das nicht nötig. Er war ein Genie und der Schulbuchwissenschaft um Lichtjahre voraus. Wenn er ansonsten auch ein vollkommener Idiot war, als Wissenschaftler musste man ihn bewundern.
„Ein zweiter Ötzi also?“
Aschendorffer nickte eifrig.
„Das macht den Fall nicht einfacher?“
„Wie? Wie meinen Sie?“
War er wirklich so weltfremd, sah er die Schwierigkeiten nicht voraus? „Sie haben diesen Leichnam gestohlen und illegal über die Grenze transportiert. Sie haben ihn heimlich in unser Institut gebracht und unten im Keller in die Tiefkühlkammer gelegt! Es ist Ihnen doch hoffentlich bewusst, dass man Sie dafür vor Gericht bringen kann. Wie wollen Sie auf dieser Basis wissenschaftliche Ergebnisse veröffentlichen?
„Wer sagt denn, dass ich irgendwelche Ergebnisse veröffentlichen will? Außerdem: Wem gehört eine Leiche, die 5500 Jahre im Eis gelegen hat? Die gehört niemandem. Höchstens dem, der sie findet.“
„Sie haben sie ja nicht einmal selbst gefunden.“
„Mona hat sie gefunden. Damit habe ich einen Anspruch!“
„Oh, je!“ Frederike Biesthal seufzte. Mit solch weltlichen Fragen durfte man Aschendorffer nicht kommen. Das ließ ihn unberührt. Sie sah es seinem entzückten Gesicht an. Es war das eines begeisterten Jungen, dem man endlich sein Wunschspielzeug geschenkt hatte.
„Was haben Sie nun vor?“
Aschendorffer lächelte selig. Biesthal wartete auf eine Antwort.
„Was wollen Sie nun tun?“, wiederholte sie. „Diesen Leichnam wieder zurückgeben?“
„Wo denken sie hin!“ Empört plusterte Aschendorffer seine Hühnerbrust auf. „Dieser Leichnam ist ein Geschenk an die Wissenschaft. Ich werde das einzig Wahre tun, was man mit solch einem Zeugen der Vergangenheit tun kann.“
Frederike Biesthal erwartete, dass Aschendorffer nun aufzählen würde, wie er Haut, Knochen, Mageninhalt, Haare, Kleidung und sonstiges Zubehör des Gletschermannes nach und nach aus dem Eis lösen und Stück für Stück untersuchen würde. „Sie tauen ihn auf“, schlug sie deshalb vor.
„Viel besser, viel besser!“, triumphierte Aschendorffer. Er hob das Laborröhrchen empor wie die olympische Fackel: „Auftauen? Das kann jeder.“ Er grinste diabolisch: „Ich werde ihn wieder zum Leben erwecken!“
*
Sie fuhren mit dem Aufzug nach unten ins zweite Kellergeschoss. Das geheime Herz von BioGen befand sich dort, eine dreifach gesicherte unterirdische Zone, zu der nur ausgesuchte Personen Zugang hatten. Neben Aschendorffer und Biesthal waren dies lediglich Amresh, Schröder und Westphal, Institutsleiter Föllstiegel, der aber ohne Not niemals diese Katakomben betreten würde, sowie Meslut Kaymal, der Generalschlüsselverwahrer, und seine sieben Töchter, die BioGen-Putzkolonne.
Im Aufzug sprachen sie nicht miteinander. Frederike Biesthal schaute streng, fast tadelnd. Sie verdaute noch Aschendorffers Ankündigung. Für ihn war die körperliche Nähe